Ich schreibe im Internet nicht über mich. Ich schreibe in der Zeitung nicht über mich. Philosophen und Autoren denken und schreiben das, was sie selbst sind.
Das Social Web ist anders. Kurzatmig. Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette. Ticktack, und ein neuer Tweet. Was in den frühen 2000ern als Verheißung eines neuen Landes begann – Peter Glaser sprach mal poetisch vom „Achten Kontinent“ –, ist heute nur noch eitel. Shoppen und Ficken, dafür ist das Social Web gut. Der bestverdienende Youtuber ist laut einer Internetzeitung ein siebenjähriger Junge, der Spielzeug in die Kamera hält. Die Kohle kriegen zwar erst mal seine Eltern, die auch bei der Videoproduktion ordentlich mitmischen, so berichtet der Online-Journalismus, aber wollen wir mal nicht so sein.
Hier regiert das Lustprinzip. Das neue Biedermeier ist mit Macht in unsere ach so schöne Habermas’sche Diskurswelt eingebrochen. Was hilft schon die Herstellung eines herrschaftsfreien Diskurses, wenn doch alle wissen, dass längst die gefühlte Sicherheit wichtiger ist als die harten Argumente der polizeilichen Kriminalitätsstatistik? Kaum jemand interessiert sich noch dafür, ob die Amerikaner uns wirklich mit Chemtrails vergiften! Wer das glaubt, glaubt auch daran, dass Hitler bis heute im Kyffhäuser wacht. Der Heiland kehrt wieder, wenn Gefühle und Gesundheitsthemen wichtiger werden. In der alternden Gesellschaft wollen die Menschen durch den Konsum von Leinöl unsterblich werden. Die Achtsamkeit hat das Mitgefühl ersetzt. Von Solidarität wollen wir gar nicht reden. Das ist unsere Gegenwart.
Ob das Problem des Online-Journalismus gelöst ist oder nicht, interessiert mich nicht mehr. Was war überhaupt sein Problem? Die Einnahmen? Die Wahrheit? Die Kurzfristigkeit? Hitler-Katzen wollen Sex? Die Marktförmigkeit und die Unreflektiertheit der Online-Redakteure? Wenn die Social-Media-Manager der Öffentlich-Rechtlichen Falschinformationen nicht löschen, weil sie sich ja schon so schön verbreitet haben – wofür zahle ich dann eigentlich Gebühren?
Dabei fällt mir ein, ich habe seit Ewigkeiten keine Gebühren mehr gezahlt, ich schicke denen immer, wenn sie mal wieder so einen Bettelbrief senden, 100 Euro, damit sie Ruhe geben. Ich habe keine Internet-Flatrate und kann das hervorragende Programm unserer Öffentlich-Rechtlichen überhaupt nicht ansehen, dennoch schicken sie mir immer weiter Briefe. Das nennt man Solidargemeinschaft.
Ich habe mich aus dieser Gemeinschaft ausgeklinkt und lebe doch mittendrin. Wir haben ja alles. Ein Gesundheitssystem. Ein Schulsystem. Eine gemeinsame Sprache. Yo, fuck off, wer hört diesen Kollegah eigentlich, woher hat er seine Streams, wer bezahlt das, das verstehe doch, wer will. Die Zukunft gehört geschlossenen Gesellschaften, und Gewinner ist, wer es schafft, sich trotz Verbot hineinzuhacken, sagt mir ein befreundeter Zukunftsforscher. Das Social Web, wie wir es kennen, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – die Pionierzeit ist Geschichte. Der „Achte Kontinent“ ist längst durchkämmt und befriedet. Kein Tabak wird mehr angebaut. Die Friedenspfeife ist verschwunden. Die letzte Zigarette nun geraucht. Ich schreibe hier nicht über mich. Dies ist eine Philosophie, die heute nicht mehr sein kann. Das Experiment ist gescheitert und war deswegen erfolgreich, nach der letzten Zigarette gibt es nichts weiter zu sagen. Bitte gehen Sie weiter, hier ist nichts.
Kommentare 7
"Bitte gehen Sie weiter, hier ist nichts."
Ich bin doch hängen geblieben.
Ich glaube, wir sind gerade Zeuge eines anderen Phänomens. Keine brutale Individualisierung, auch kein Kollektiv, in dem "alle wissen, dass längst die gefühlte Sicherheit wichtiger ist als die harten Argumente der polizeilichen Kriminalitätsstatistik", sondern eine Etablierung digitaler und lebensweltlicher Klein- und Kleinststaaten. Es interessiert sich ja nicht jeder für sich, sondern jeder für sein Weltbild – in das er selbst eingebunden ist, in dem er eine oder mehrere Rollen hat – durch dieses ist er durchaus noch mit anderen verbunden. Nur eben nicht mit der Nachbarschaft, sondern weltweit, zumindest außerhalb der Sichtweite und der Weite, wo man sich gegenseitig praktisch helfen kann. Man richtet sich ein, in einer öfter auch virtuellen Welt, die allerdings real ist, in einer virtuellen Echokammer, in der immer erfolgreicher Erwartbares konsumiert wird, weil ich mir die Teile der Welt, die ich erwarte, aussuchen kann. Und die passenden Leute und Teile, qua Algorithmus, mich aussuchen.
Was man sich aussucht und zum Weltbild zusammenflickt, ist aber nicht nur Wohlgefälliges, sondern tatsächlich eher Erwartetes. Die Welt soll sein, wie ich es mir vorstelle. Dazu gehört nicht nur Shoppen und Ficken, sondern auch dass die Welt tatsächlich so böse, großartig, läppisch, dumm, partymäßig, kompliziert, einfach … ist, wie ich das haben will. Störenfriede, Hindernisse und Feinde inklusive, Hauptsache man kann sagen, dass man es doch gewusst hat. Ironischerweise sogar und das gar nicht so selten, wenn das Leben nicht so prickelnd verläuft: Egal. Man hat's doch immer schon gesagt, das zählt. Dass Menschen an ihrem Weltbild manchmal mehr festhalten, als an ihrem Leben ist ein eindrucksvoller Befund. Was kann die biologische Triebhaftigkeit, die uns alle dirigiert (gemäß der Splittergruppe gläubiger Biologisten) gegen einen fanatisierten Selbstmordattentäter, Workaholic oder eine Bulimikerin ausrichten?
So weit ich das beobachte, ist nicht eine Individualisierung das Problem der Stunde, sondern eine Fragmentierung auf kleine und kleinste Grüppchen. Die hat es schon gegeben, man konnte auch früher schon Tennis und im Posaunenchor spielen und zugleich Vater, Kegelbruder und Angestellter sein, nur war da stets noch etwas Größeres, die Gesellschaft verbindendes, von dem man wusste, dass es so ziemlich alle Mitglieder der Gesellschaft teilen: Der „Straßenfeger“ im Fernsehen, bestimmte Lieder, bestimmte Themen der Gesellschaft, die alle betrafen, politische Überzeugungen, ein Arsenal überschaubarer Pratiken die einfach dazu gehörten: Samstags Auto putzen, Sonntags braten.
Diese dann doch wieder verbindenden Elemente (lebensweltlicher Gemeinsamkeiten) sind zersplittert, zerfasert, fragmentiert oder zumindest dabei, dies zu tun. Die Serien bei Netflix verbinden mich vielleicht mit den hippen New Yorkern, aber nicht zwingend mit der Nachbarin. Die schaut vielleicht lieber Volksmusik. Pornos sind noch immer subkulturelle Angebote, d.h. man weiß, dass sie irgendwie jeder schaut, aber am nächsten Morgen im Büro tauscht man sich nicht darüber aus, welche Pornos einen besonders anmachen und falls das alte Ritual, dass der Chef zum Essen kommt überhaupt noch existiert, gibt es eben nicht nach dem Dessert den Lieblingsporno (bei dem wir immer so richtig abgehen) und Shoppen, da weiß ich gerade nicht, inwieweit man sich darüber austauscht.
D.h., dass der oft so verhasste Mainstream (schon bei Heidegger eben so großartig, wie verächtlich als „das Man“ beschrieben), ist zwar noch immer der Lieblingsfeind vieler Splittergruppen, aber sie müssen erst einen Pappkameraden errichten, den sie dann mit Genuss bekämpfen oder vor dem sie sich zu Tode fürchten (aber da die Wirklichkeit eben nicht mit sich verhandeln lässt, da kannze nix machen, außer einsehen, dass es ist, wie es nun mal ist – was einen immerhin noch als Bescheidwisser auszeichnet), Hauptsache es bleibt, wie (in dieser Echokammer) erwartet. Die andere Seite, das lebensweltlich Verbindende wird immer weiter runter gedimmt, der Mainstream dünnt immer mehr aus, weshalb die Wirkung der großen Strippenzieher auch immer mehr in den Raum des Geheimen verlegt wird: Es ist alles anders, als es scheint. Da ist die Fragmentierung, die zweite Ebene, die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit dann Programm geworden, die Welt der Verschwörungstheoretiker, die wissen, dass diejenigen, die sie Verschwörungstheoretiker nennen, das nur tun, weil sie zu dumm, borniert oder Teil des Systems sind. Mausfeld erklärt das dann noch mal ausführlich, für die ältere Generation. Narzissmus und Paranoia sind zwar die beiden Pole der Regression (die dann irgendwann verschmelzen) und insofern auch gesellschaftlich verbindend, aber in der unerfreulichen Weise, dass Misstrauen, Klischees und Banalisierungen immer mehr dominieren. Man muss den Mainstream nicht mögen, aber ihn dennoch lebendig halten und sei es nur als Feindbild.
Diese hellsichtige Notiz bestätigt und widerlegt sich selbst. Der angeblich neue „achte Kontinent“ ist nichts weiter als eine Werbebotschaft, wir leben wie zu Urzeiten im Alltag des „Shoppen und Ficken“, wie das Gefleuch und Gewürm. Aber es macht doch einen Unterschied, ob etwas nur ist oder auch artikuliert wird, bewußt ist. Wir können nicht nichtreflektieren. Wenn man genauer hinschaut, ist doch mehr, ist in dem Nichts ein leises Rauschen, ein Silberstreif am Horizont.
"... wir leben wie zu Urzeiten im Alltag des „Shoppen und Ficken“, wie das Gefleuch und Gewürm."
Benn rückte mehr die Autoerotik in den Vordergrund, trotz seiner zahlreichen Affären (jeder Beischlaf "süße Onanie" oder so ähnlich). Nachdem er bei in einem Zoobesuch die Affen studierte, schrieb er an eine Brieffreundin:
„Die Tiere machen einen ja nachdenklich. Wir gehen doch noch außerdem zum Friseur u. begaunern die Kundschaft, sonst alles ebenso. Sich lausen u. wichsen, – Kinder, Kinder! Das nennt sich Schöpfung!“(aus: Gunnar Decker, Benn - Genie und Barbar)
Aber Gott war da für ihn wohl auch gestorben.
Aber das mit dem Silberstreif ist eine schöne und wahre Bemerkung. Dass Sie Optimist sind, auch.
Shoppen und Poppen wäre stilistisch besser gewesen, als "Shoppen und Ficken". ^^
Shoppen und Poppen wäre stilistisch besser gewesen, als "Shoppen und Ficken". ^^
Das muss ich einfach liken!
(😉)
Nietzsche ist tot
Der achte Kontinent
Notorisch
Schoppen und Ficken
Aber bitte mit Leinöl
Lustprinzip
Einhundert Euro sind einhundert Euro sind einhundert Euro