Gott ist tot!

Neuland Shoppen und Ficken, dafür ist das Internet gut. Und obwohl es abgegrast ist, haben wir immer noch das Gefühl, Pioniere zu sein
Ausgabe 49/2018
Die Zukunft gehört geschlossenen Gesellschaften. Gewinner ist, wer es schafft, sich trotz Verbot hineinzuhacken
Die Zukunft gehört geschlossenen Gesellschaften. Gewinner ist, wer es schafft, sich trotz Verbot hineinzuhacken

Foto: Carl de Souza/AFP/Getty Images

Ich schreibe im Internet nicht über mich. Ich schreibe in der Zeitung nicht über mich. Philosophen und Autoren denken und schreiben das, was sie selbst sind.

Das Social Web ist anders. Kurzatmig. Was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette. Ticktack, und ein neuer Tweet. Was in den frühen 2000ern als Verheißung eines neuen Landes begann – Peter Glaser sprach mal poetisch vom „Achten Kontinent“ –, ist heute nur noch eitel. Shoppen und Ficken, dafür ist das Social Web gut. Der bestverdienende Youtuber ist laut einer Internetzeitung ein siebenjähriger Junge, der Spielzeug in die Kamera hält. Die Kohle kriegen zwar erst mal seine Eltern, die auch bei der Videoproduktion ordentlich mitmischen, so berichtet der Online-Journalismus, aber wollen wir mal nicht so sein.

Hier regiert das Lustprinzip. Das neue Biedermeier ist mit Macht in unsere ach so schöne Habermas’sche Diskurswelt eingebrochen. Was hilft schon die Herstellung eines herrschaftsfreien Diskurses, wenn doch alle wissen, dass längst die gefühlte Sicherheit wichtiger ist als die harten Argumente der polizeilichen Kriminalitätsstatistik? Kaum jemand interessiert sich noch dafür, ob die Amerikaner uns wirklich mit Chemtrails vergiften! Wer das glaubt, glaubt auch daran, dass Hitler bis heute im Kyffhäuser wacht. Der Heiland kehrt wieder, wenn Gefühle und Gesundheitsthemen wichtiger werden. In der alternden Gesellschaft wollen die Menschen durch den Konsum von Leinöl unsterblich werden. Die Achtsamkeit hat das Mitgefühl ersetzt. Von Solidarität wollen wir gar nicht reden. Das ist unsere Gegenwart.

Ob das Problem des Online-Journalismus gelöst ist oder nicht, interessiert mich nicht mehr. Was war überhaupt sein Problem? Die Einnahmen? Die Wahrheit? Die Kurzfristigkeit? Hitler-Katzen wollen Sex? Die Marktförmigkeit und die Unreflektiertheit der Online-Redakteure? Wenn die Social-Media-Manager der Öffentlich-Rechtlichen Falschinformationen nicht löschen, weil sie sich ja schon so schön verbreitet haben – wofür zahle ich dann eigentlich Gebühren?

Dabei fällt mir ein, ich habe seit Ewigkeiten keine Gebühren mehr gezahlt, ich schicke denen immer, wenn sie mal wieder so einen Bettelbrief senden, 100 Euro, damit sie Ruhe geben. Ich habe keine Internet-Flatrate und kann das hervorragende Programm unserer Öffentlich-Rechtlichen überhaupt nicht ansehen, dennoch schicken sie mir immer weiter Briefe. Das nennt man Solidargemeinschaft.

Ich habe mich aus dieser Gemeinschaft ausgeklinkt und lebe doch mittendrin. Wir haben ja alles. Ein Gesundheitssystem. Ein Schulsystem. Eine gemeinsame Sprache. Yo, fuck off, wer hört diesen Kollegah eigentlich, woher hat er seine Streams, wer bezahlt das, das verstehe doch, wer will. Die Zukunft gehört geschlossenen Gesellschaften, und Gewinner ist, wer es schafft, sich trotz Verbot hineinzuhacken, sagt mir ein befreundeter Zukunftsforscher. Das Social Web, wie wir es kennen, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten – die Pionierzeit ist Geschichte. Der „Achte Kontinent“ ist längst durchkämmt und befriedet. Kein Tabak wird mehr angebaut. Die Friedenspfeife ist verschwunden. Die letzte Zigarette nun geraucht. Ich schreibe hier nicht über mich. Dies ist eine Philosophie, die heute nicht mehr sein kann. Das Experiment ist gescheitert und war deswegen erfolgreich, nach der letzten Zigarette gibt es nichts weiter zu sagen. Bitte gehen Sie weiter, hier ist nichts.

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Geschrieben von

Julia Seeliger

schreibt alle vier wochen das "medientagebuch"

Julia Seeliger

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden