Gauck lohnt sich

Demokratielehrer Joachim Gauck als Bundespräsident ist weder so gut noch so schlecht wie zunächst behauptet. Aber Gauck ist nicht alles. Auch nicht nach seiner Italienreise.

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"Demokratielehrer" ist ein besonders gemeines Etikett - Bundeskanzlerin Angela Merkel heftete es Joachim Gauck vor gut drei Jahren an, aus Anlass seines seinerzeit bevorstehenden 70. Geburtstages. Und sie fügte hinzu:

Sie halten die Erinnerung an die DDR und ihr Unrechtssystem wach. Sie werben immer wieder für Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Es lohnt sich, Merkels ganze Rede zu lesen. Sie erklärt vermutlich viel von der Ablehnung, die Gauck "von links" entgegenweht.

Allerdings hat Gauck sich gegen die weihevollen Blumenkränze, die ihm umgelegt wurden, auch nie verwahrt. Und auf Antikapitalismus reagierte er 2011 mit der - außerordentlich albernen - Ansage, er habe in einem Land gelebt, in dem die Banken besetzt waren - in der DDR.

Diese Fixierung auf staatliches Unrecht von gestern hat Gauck mit vielen Politikern und Establishment-Vertretern gemeinsam, die den Begriff "Unrecht" in der Bundesrepublik Deutschland schon darum nicht gelten lassen wollen, weil es sich doch um einen "Rechtsstaat" handle. Das macht ihn für die politische Klasse akzeptabel, von der SPD und den Grünen bis zur CDU/CSU. Wenn es ums Grundsätzliche geht, ist Joachim Gauck ein wandelndes Unbedenklichkeitszertifikat für die "Entscheider von heute".

Und trotzdem wollte die Kanzlerin keinen Bundespräsidenten Gauck. Als reisender Demokratielehrer, in seiner Eigenschaft als Stasi-Aufarbeiter, Pfarrer und Rentner, hätte er ihr vollkommen genügt.

Vielleicht wusste sie, dass Gauck glaubt, was er predigt. Für viele Politiker, und vermutlich auch für Merkel, hört an einem solchen Punkt der Spaß auf.

Denn als einer, der meint was er sagt, ist Gauck im Einzelfall für die reine Machtpolitik unberechenbar.

Am 24. März reiste er nach Italien. Zusammen mit seinem italienischen Amtskollegen Georgio Napolitano gedachte er in Sant’Anna di Stazzema eines von Deutschen verübten Massakers. Und er sagte: das Urteil über gut und böse, Täter oder Opfer ist also auch möglich, wenn Gerichte nicht zu einem Schuldspruch gelangen können.

Deutlicher wurde Gauck nicht. Für die Ermittlungen in Deutschland - und ihre Einstellung - war eine Staatsanwaltschaft verantwortlich, die auf anderen Ermittlungsfeldern durch Maßnahmen auffällt, die sich gegen Menschen richten, die den Begriff "Demokratie" ernstnehmen und zivilgesellschaftliches Engagement praktizieren.

Wie frustrierend das im Alltag und vor Ort sein kann, lässt sich zum Beispiel in diesem Beitrag nachlesen.

Enrico Pieri ist ein 78 Jahre alter Mann. Der Vorsitzende des Opferverbandes von Sant'Anna ist selbst Überlebender des Massakers von Sant’Anna di Stazzema.

Und spätestens wenn es um Pieri geht, wird das Stuttgarter Establishment verhaltensauffällig. Als Enrico Pieri im Januar Stuttgart besuchte, hatten der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grün) und sein Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) für ihn keine Zeit. Außer der Kontextzeitung fiel das wohl kaum einem Medium auf.

Aber hier kam die lose Kanone Gauck ins Spiel. Niemand würde ihn öffentlich so nennen - aber der Begriff ist in der Politik Usus - sein löbliches Gegenteil wäre Berechenbarkeit.

Pieri schrieb Gauck einen Brief. Und da die italienische politische Klasse dem Massaker von Sant’Anna di Stazzema ein anderes Gewicht beimisst als die deutsche - und der italienische Staatspräsident offenbar gerne bereit war, Pieris Brief persönlich an Gauck zu übergeben -, ging die Botschaft Pieris beim deutschen Präsidialamt auch keineswegs unter.

Im Gegenteil: lt. Kontextzeitung wollte Gauck nicht bis zum 70. Jahrestag des Massakers im Aguust 2013 warten - am vorigen Sonntag war er vor Ort.

Könnte er mehr tun? Sollte er mehr tun? Soll das Bundespräsidialamt zu einer eigenen Bewertung der staatsanwaltlichen Ermittlungen gelangen?

Hier stößt der Bundespräsident - seinerseits ein staatliches "Organ" - vermutlich an seine Grenzen. Und hier beginnt der "Demokratielehrer" (um dieses dumme Wort, den sowohl Gauck-Fans als auch ein Gauck-Kritiker gerne verwenden, auch einmal gebraucht zu haben).

Ob zum Beispiel eine Sitzblockade vor der Stuttgarter Staatsanwaltschaft bei Gauck auf Wohlgefallen stieße oder von ihm als albern empfunden würde, bliebe möglicherweise sein Geheimnis. Tatsache ist: wer sich an einer solchen Sitzblockade beteiligt, kann die Rechtssicherheit, für die die Bundesrepublik sich rühmt, allenfalls bedingt für sich in Anspruch nehmen. Wie schnell sich ein Straftatbestand - aus der Sicht einer Staatsanwaltschaft - ergeben kann, haben viele Stuttgarter ja bereits gelernt.

Aber Tatsache ist auch: Demonstrationen gegen die deutsche juristische Bearbeitung des Massakers von Sant’Anna di Stazzema wären definitiv kein Teil der von Gauck geschmähten Protestkultur, die aufflammt, wenn es um den eigenen Vorgarten geht. Es müsste noch nicht einmal eine Sitzblockade sein. Und eine Massendemonstration, die zeigt, dass Deutsche das Leid anderer Völker ernst genug nehmen, um auf die Straße zu gehen, wäre ein Signal, das mindestens in Italien wahrgenommen würde. Es gibt nämlich nicht sehr viele solcher Signale.

Es gibt einen Punkt, an dem die Möglichkeiten eines Bundespräsidenten enden. Das ist mitunter wiederum der Punkt, an dem die Zivilgesellschaft beginnt, und an dem sie ihre eigene Existenz beweisen muss.

Entstünde diese Art Protest, und entwickelte sie eine hinreichende Dynamik, würde es den Medien selbst im Südwesten Deutschlands schwerfallen, ihn zu ignorieren.

Dann begönne zwar das Wiegen der Köpfe: Wollen sich da nicht nur ein paar Wichtigtuer einen Persilschein der späten Geburt ausstellen? Soll man alte Menschen mit ihrer Vergangenheit behelligen? Müssen wir nicht erst einmal die Arbeitslosigkeit bekämpfen / flächendeckende Mindestlöhne / ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen?

Undsoweiter.

Aber es wäre ein Beispiel praktischer Demokratie: die Zivilgesellschaft gegen die Machtmaschine. Und Gauck wäre der letzte, der sich darüber dann noch lustig machen könnte. Vielleicht würde er sich noch nicht einmal absprechend darüber äußern wollen.

Die Pflege von Ressentiments ist eine leichte, wenn auch nicht besonders bereichernde Übung. Wer mit Joachim Gauck etwas anfangen können will, sollte ihn interpretieren. Seine Botschaften sind dafür widersprüchlich genug.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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