Vor dem 4. Juni - Sieben Forderungen

Neuer Studentenbund Zur Erklärung der nachfolgenden Übersetzung bitte die Erklärung links unter "Info" beachten.

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Ihre Freitag-Redaktion

Dienstag, 18. April 1989

Um Mitternacht verlassen über tausend Studenten den Campus der Beijing-Universität für eine Demonstration. Bis sie das Diaoyutai Guest House erreicht haben, ist ihre Zahl auf dreitausend angestiegen. Ausländische Journalisten und Mitarbeiter ausländischer Botschaften begleiten den Zug und beobachten das Ereignis. Um 01:30 ist die Volksuniversität (Renmin University) erreicht und der Zug legt eine Pause ein, während der fast tausend Studenten dieser Universität hinzukommen. Auch Studenten der Tsinghua-Universität und weiterer Universitäten schließen sich an. Inzwischen haben sich annähernd zehntausend Menschen versammelt, die meisten davon Studenten, die dann im Verlauf der Demonstration wieder gehen.

Demonstranten der Beijing-Universität tragen weiße Seidenbanner von zehn Meter Länge und vier Meter Höhe, mit Schriftzeichen wie "Seele Chinas", "Für immer die Erinnerung an den Genossen Hu Yaobang", unterschrieben von "Lehrern und Studenten der Beijing-Universität und ihren Freunden". Studenten rufen lauthals "Es lebe die Demokratie", "Es lebe die Freiheit", "Nieder mit der Bürokratie" und ähnliche Slogans und singen die Internationale. Um etwa 04:30 am Morgen erreicht man den Platz des Himmlischen Friedens und versammelt sich am Denkmal für die Helden des Volkes. Ein Student klettert das Denkmal hinauf und ruft: "Diese Aktion ist völlig spontan und hat nichts mit dem Studentenbund (der offiziellen Organisation) zu tun. Wir haben unsere eigenen Studentenvertreter gewählt, die Gespräche mit der Regierung vorbereiten."

Bei Morgendämmerung sitzen mehrere hundert Studenten der Beijing-Universität vor der Großen Halle des Volkes und verlangen ein Gespräch mit politischern Führern oberhalb des Rangs ständiger Mitglieder des Nationalen Volkskongresses. Sie stellen sieben Forderungen1):

  • Hu Yaobangs Verdienste und Fehler neu einschätzen und seine demokratischen, freiheitlichen, toleranten, harmonischen Standpunkte bejahen
  • die Kampagnen gegen geistige Verschmutzung und gegen kapitalistischen Liberalismus nachdrücklich verwerfen und gegen Intellektuelle begangenes Unrecht korrigieren
  • alle Gehälter und Einkommen der Führer des Landes öffentlich machen und gegen korrupte Beamte vorgehen
  • privat betriebene Zeitungen zulassen, die Zensur aufheben, die Freiheit der Rede umsetzen
  • Bildungsausgaben erhöhen und die Behandlung von Intellektuellen verbessern
  • die zehn Regeln der Beijinger Stadtregierung zu Demonstrationen aufheben
  • die Regierungsführer zum Bericht von Fehlern an den Nationalen Volkskongress in einer öffentlichen Nachprüfung verpflichten und die Posten bestimmter Offizieller zur Wiederwahl ausschreiben.


Eine Versammlung der Postgraduierten der Rechtsfakultät der Beijing-Universität unter Beteiligung der Postgraduiertenunion Li Jinjin erarbeitet [oder diskutiert] die Forderungen.

Um 07:30 bemerkt Wang Dan von der Geschichtsfakultät der Beijing-Universität, dass die Anzahl der schweigenden Demonstranten kleiner wird und ruft Li Shuxian, die Ehefrau Fang Lizhis, an. Sie hängt ein Poster am San Jiao Di2) aus. Es ist der Fall, den die KP Chinas nach dem 4. Juni als manipulative Aktion zwischen Fang Lizhis Ehefrau und der Studentenbewegung feststellt. Um acht Uhr lädt - unter anderem - der Direktor des Petitionsbüros des Staatsrats, Zheng Youmei, Guo Haifang, Wang Dan und weitere Studentenvertreter ein, die Große Halle des Volkes zu betreten und dort ihre Petition abzugeben. Guo, Wang und andere verlangen dabei, das das ständige Komittee des Nationalen Volkskongresses herauskommt, um einen Dialog zu führen, worauf Zheng erwidert, dies erfordere eine gewisse Etikette. Die Studenten erklären den Dialog für nicht zufriedenstellend.

Um 17:30 treffen Liu Yandong als Mitglied der ständigen Kommission des Nationalen Volkskongresses und die Volkskongressdelegierten Tao Xiping und Song ShixiongGuo Haifeng und andere Studentenvertreter. Guo und seine Begleiter überreichen eine Petition an den Nationalen Volkskongress, die im wesentlichen die sieben Forderungen enthält.

Um 18:55 verlassen über dreitausend Studenten von der Volksuniversität, der Beijing-Universität, dem Beijing Institute of Technology ihren jeweiligen Campus und machen sich auf den Weg zum Platz des Himmlischen Friedens. Dort kommen sie um 20:00 an - zuerst die Radfahrer, dann diejenigen, die zu Fuß unterwegs sind. Um 21:00 sind rund zehn- bis zwanzigtausend Menschen auf dem Platz versammelt, und die schweigend protestierenden Studenten vor der Großen Halle des Volkes haben sich vor dem Denkmal für die Helden des Volkes versammelt.

Um 22:50 bewegen sich über zweitausend Stundenten und Zuschauer zum Xinhua-Tor, dem Sitz des Staatsrats, und verlangen einen Dialog mit Staatsratschef Li Peng. Li ist an diesem Abend bei der Familie Hu Yaobangs, um dort seine Wertschätzung für Hu auszudrücken. Die Familie äußert den Wunsch nach einer einfachen Bestattung. Sie geben auch erneut den Wunsch des Verstorbenen weiter, das Zentralkomitee möge zu einem Bewertungsergebnis seiner Arbeit gelangt - und dass er natürlich auch keinen Groll hege, wenn dies nicht geschehe.

Am Nachmittag haben Studenten der Nanjing-Universität und der Hehai-Universität eine Demonstrationsgenehmigung beim Büro für öffentliche Sicherheit der Provinz Jiangsu gestellt, mit der Aussage, dass über zehntausend Studenten mehrerer Universitäten sich am 19. April um ein Uhr mittags auf dem Glockenturmplatz versammeln wollen Aus der Stadt Xi'an, Hauptstadt der Provinz Shaanxi wird berichtet, dass die Traueraktivitäten sich von den Universitäten aus in die weitere Bevölkerung verbreiten.

Der Dienstag geht zu Ende, und nur von Associated Press gibt es laut Unterlagen der KP Chinas einen Bericht aus Shanghai. Alle anderen Berichte bleiben auf Beijing fokussiert. Laut Associated Press sind die Demonstrationen am Dienstag politischer geworden, mit Forderungen nach Antworten der Regierung. Li Jinjin [Mitautor der sieben Forderungen und maßgeblicher Organisator des Schweigeprotests vor der Großen Halle des Volkes, während des Tages] sagt: "Die Bürokratie hat einen Geschmack von der Macht des Volkes bekommen. Die Studenten wollten einen Dialog mit den verantwortlichen ständigen Mitgliedern des Volkskongresses über die Forderungen, aber es gab keine sofortige Antwort. Sie wagten es nicht, damit herauszukommen."

Mittwoch, 19. April 1989

Morgens um drei sind immer noch etwa zweitausend Studenten3) vor dem Xinhua-Tor, stehend oder im schweigenden Sitzstreik. Aber es sind erheblich weniger als am Abend zuvor. Unermüdlich rufen sie, Li Peng solle herauskommen. Um 4:20 warnt ein Lautsprecherwagen vor schlechten Elementen, die Störungen verursachten und Menschen für ihre eigenen Zwecke benutzen wollten. Dies sei keine normale Domonstration mehr. Eine große Zahl von Polizeiwagen rückt an, dazu zwei Busse, und die Studenten, die immer noch [gemeint ist offenbar: trotz der Ansagen] vor dem Tor sind, werden ohne Zwischenfälle zu ihren Universitäten zurückgebracht. Am Nachmittag beginnen die verwendeten Slogans, neben Lob für Hu Yaobang, auch Aufrufe zur Entfaltung der Tradition des 4. Mai4) zu enthalten.

Um 21:00 haben sich mehrere Zehntausend Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelt. Lautsprecherwagen der Staatssicherheit informieren die Öffentlichkeit darüber, dass Kränze zum Denkmal für die Helden des Volkes, aber nicht nach Zhongnanhai - das Xinhua-Tor ist Teil des Zhongnanhai-Komplexes - gebracht werden dürfen. Um etwa 22:00 hält die Polizei Studenten davon ab, Wasserstoffballons5) mit der Aufschrift "Hu Yaobang ist nicht tot" aufsteigen zu lassen. Das Xinhua-Tor ist für die Demonstranten nicht erreichbar, nachdem es polizeilich abgeriegelt wurde.

Am Abend hält der Demokratische Salon eine Veranstaltung an der Beijing-Universität ab. Ort ist der San Jiao Di [vergl. Fußnote 2 unten], und die Moderation übernimmt Wang Dan, bis er heiser wird und Wu Yunxue ihn ablöst. Ding Xiaoping, Xiong Yan, Feng Congde, Yang Tao und andere halten Reden. Die teilnehmenden Studenten beschließen die Absetzung des offiziellen Studentenbundes und die Einsetzung einer Steuerungskommission für einen Autonomen Studentenbund der Beijing-Universität.

Das Zentralkomitee der KP Chinas kündigt an, dass am 22. April in der Großen Halle des Volkes eine Trauerzeremonie für Hu Yaobang abgehalten wird. Die Zeremonie soll live von der Central People's Broadcasting Station (Radio) und von CCTV (Fernsehen) übertragen werden.

Fang Lizhi, seinerzeit Forscher am Nationalen Astronomischen Observatorium, wird von einem Hong Konger Reporter telefonisch interviewt. Die Studenten haben ein Recht darauf, Forderungen zu stellen und sie friedlich auf Demonstrationen zu äußern, sagt Fang. Er unterstütze die Studenten, und ebenso täten dies Intellektuelle und die Öffentlichkeit allgemein. Er habe keine unmittelbaren Verbindungen zu den Studenten; deren Streben nach Demokratie und Freiheit spontan sei und ihren eigenen Ansichten folge. Er nehme auch nicht unmittelbar an ihren Aktionen teil.

Donnerstag, 20. April, 1989

Um Mitternacht verkündet Wang Dan auf dem Demokratischen Salon der Beijing-Universität die Gründung des "Steuerungskomitees der Vereinten Studenten der Beijing-Universität", welche den amtlich kontrollierten Studentenbund ablösen soll. Die sieben Mitglieder des Steuerungskomitees sind Ding Xiaoping, Yang Tao, Wang Dan, Yang Dantao, Xiong Yan, Feng Congde und Chang Jin (manchmal auch Chang Jing ausgesprochen). Das Komitee empfiehlt, dass die Studenten aller Universitäten sich selbst organisieren und Delegierte wählen, um eine einheitliche Führung für die Bewegung zu sichern.

Zu Spitzenzeiten sind nun bis zu fünfzig- oder sechzigtausend Menschen auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

Zhongnanhai ist abgeriegelt, und Lautsprecherwagen warnen um 03:45 morgens dass die rund 300 Studenten, die sich immer noch vor dem Xinhua-Tor befinden [offenbar im Sitzstreik], sie würden die Konsequenzen ihres Handelns selbst zu tragen haben. Um etwa 04:00 zerstreut Militärpolizei die Studenten und zwingt sie in Busse. Einige wollen keinen Bus besteigen, und es kommt zu Handgreiflichkeiten.

Die Hong Konger Zeitung "Express" (Kuai Bao) berichtet, dass Studentenvertreter der Beijing-Universität, der Volksuniversität und der University of Political Science and Law bei Verhandlungen mit den Behörden keine Fortschritte erreicht haben, seit sie Zhongnanhai morgens um zwei betreten haben. Die Studenten werden ungeduldig.

Um 15:00 gibt es Proteste an der Beijing-Universität. Ein Student der University of Political Science and Law, Wang Zhiyong, wurde frühmorgens am Xinhua-Tor geschlagen. Die blutigen Kleidungsstücke des Studenten werden an der University of Political Science and Law ausgestellt.

In seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der KP Chinas etnscheidet Deng Xiaoping, die Polizei und Militärpolizei in Beijing zu verstärken. Die neu hinzukommenden Truppen sind von der Dritten Hauptstadtdivision (Polizei) und der 38. Armee (Teil der Militärregion Beijing).

Am Morgen trifft Tian Jiyun, Vizechef des Staatsrats, den Generalsekretär der KP Chinas Hu Yaobang und schlägt vor, dieser solle seinen Plan, am 23. April zu einem Besuch nach Nordkorea abzureisen, ändern. Tian ist der einzige Kader, den Zhao aus der Provinz Sichuan nach Beijing mitbrachte6). Er habe ebenfalls darüber nachgedacht, so Zhao, sei aber zu dem Ergebnis gekommen, eine Änderung seines Reiseplans würde der Außenwelt den Schluss nahelegen, dass die politische Situation nicht stabil sei. Er werde daher an seiner Reise festhalten.

Studenten aus Tianjin treffen per Zug in Beijing ein, davon fünfzig an diesem Donnerstagabend. Über einhundert haben Fahrkarten gekauft und werden am Freitag eintreffen, um an einer Demonstration in Beijing teilzunehmen.

Demonstrationen werden aus der Provinz Anhui gemeldet. In Nanjing verlassen um 22:30 über dreitausend Studenten den Campus der Nanjing-Universität, um vor den Gebäuden der Regierung der Provinz Jiangsu [deren Hauptstadt Nanjing ist] zu demonstrieren.

In Xi'an, Hauptstadt der Provinz Shaanxi, versuchen etwa 2300 Menschen in den Eingang des Gebäudes der Prvinzregierung einzudringen. Über 200 werden von der Militärpolizei verhaftet. Eine amtliche Erklärung sagt das einige wenige organisierte Studenten unter den Unruhestiftern gewesen seien, und das die Mehrheit aus "jungen Auf-Arbeit-Wartenden", aus Arbeitern ohne feste Pflichten und überwiegend aus jungen Menschen bestanden habe.7)
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Anmerkungen

1) Zum Vergleich: die sieben Forderungen lt. Wikipedia (seven demands).
2) eine zentrale kleine Grünfläche auf dem Campus der Beijing University, die in den 1970ern und 1980ern Durchlaufstation aller studentischen Demonstrationen gewesen sein soll.
3) Die Zahlen erscheinen im Zusammenhang mit dem Xinhua-Tor nicht schlüssig - auch am Abend zuvor sollen es rund zweitausend Menschen vor dem Xinhua-Tor gewesen sein.
4) Vergl. letzten Absatz des Beitrags hier, Bericht des Hong Kong Standard. Die Vierte-Mai-Bewegung (1919) ist unantastbarer Teil der neuchinesischen Geschichtsschreibung, als ein Ausgangspunkt für nationale Erneuerung und Patriotismus, und ein Appell an diesen Teil der (republikanischen) Tradition ist üblicherweise hilfreich, um seine eigenen Handlungen zu legitimieren.
5) Solche Ballons fliegen üblicherweise nicht frei, sondern sind am Boden verankert, wie auf diesen Archivaufnahmen in einem Musikvideo (sie zeigen den Platz des Himmlischen Friedens am 1. Oktober 1949, der Ausrufung der VR Chinas durch Mao Zedong) zu sehen. Anlässe für solche Ballons sind heute sowohl politische als auch kommerzielle Ereignisse.
6) Wu Renhua geht also wohl von einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Zhao Ziyang und Tian Yun aus - und von einer sehr schwachen "Hausmacht" des KP-Generalsekretärs in Beijing.
7) "Auf Arbeit Wartende" war auch in den 1990ern die Bezeichnung für Jugendarbeitslosigkeit. Diese von Wu Renhua der Provinzregierung von Shaanxi zugeschriebene Erklärung unterscheidet zwischen "Nichtsnutzen" und Studenten - in den ersten Tagen und Wochen der 1989er Bewegung gab es offenbar eine weit verbreitete Ablehnung unter den Parteikadern, die Agenda der Studenten rundheraus zu verurteilen, nicht nur unter denen, die KP-Generalsekretär Zhao Ziyang nahestanden. Ein Grund mag die Tatsache gewesen sein, dass Studenten in verschiedenen mehr oder weniger "revolutionären" Ereignissen eine besondere Rolle zugeschrieben wurde, z. B. bei der Vierte-Mai-Bewegung. Ein weiterer Grund mag darin bestanden haben, dass die Partei sich zunehmend von einer "Arbeiter-und-Bauern" in eine Eliten-Partei umzubilden versuchte. Das war allerdings ein Prozess, der erst mit Zhao Ziyangs Nachfolger Jiang Zemin programmatisch kanonisiert wurde, mit der Doktrin des "Dreifachen Vertretens".

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Fortsetzung folgt - JR

Dieser Beitrag ist der vierte von mehreren über die chinesische Demokratiebewegung im Jahr 1989.

Weitere Details unter "Info" » hier.

Wu Renhua's Bericht ist hier herunterladbar.

Vorige Beiträge zum 4. Juni

» Trauer, auch offiziell, 13.05.13
» Das historische Relkit (Zwischenbemerkungen), 15.05.13

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Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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