Misstraut Schwätzern, suchet die Aufrichtigen

Jubiläum Vor 150 Jahren nahm die Pariser Kommune ihren Anfang. Es war eine Revolution, die keine Knechtschaft und kein Gulag hervorbrachte
Ausgabe 10/2021
Barrikade in Paris zu Zeiten der Pariser Kommune, 18. März 1871
Barrikade in Paris zu Zeiten der Pariser Kommune, 18. März 1871

Foto: SNEP/AFP/Getty Images

Manche Sterne am Himmel strahlen, obwohl sie schon vor langer Zeit erloschen sind. Ein solcher Stern ist die Pariser Kommune, die vor 150 Jahren, in den Morgenstunden des 18. März 1871, ihren Anfang nahm.

Eine Revolution, die keine Knechtschaft und keinen Gulag hervorbrachte. Ihre Helden – unter ihnen viele mutige Kämpferinnen! – fielen auf der Barrikade und starben an der Friedhofsmauer des Père Lachaise, nicht aber durch die eigenen Genossen. Rausch und Revolution: In jenen Wochen übernahmen die Arbeiter die Verwaltung ihrer Betriebe, deren Besitzer aus der Stadt geflohen waren. Mieten wurden abgeschafft, Lehrergehälter verdoppelt und die Schulpflicht für Kinder eingeführt, und das in weltanschaulich neutralen, kostenlosen Schulen!

Die Pariser Kommune währte nur 72 Tage, sie wurde blutig niedergeschlagen von den Söldnern des alten Regimes. Der Mythos aber lebt! Noch heute stellt der Aufruf der Kommunarden zu den Wahlen des Pariser Gemeinderats jedes Plakat der Linkspartei in den Schatten:

„... Bürger! Vergesst keinen Augenblick, dass nur diejenigen Männer Euch am besten dienen werden, welche Ihr aus Eurer Mitte erwählt; denn diese teilen mit Euch dasselbe Leben und die gleichen Leiden. Misstraut ebenso den Ehrgeizigen wie den Emporkömmlingen. Die einen wie die anderen werden bei ihren Handlungen nur vom Eigennutz gelenkt und halten sich zu guter Letzt stets für unersetzlich. Misstraut den Schwätzern, sie sind unfähig zu handeln und werden einer Ansprache, einem rednerischen Erfolg oder geistreichen Worte alles andere opfern. – Meidet ferner die großen Günstlinge des Glücks. Denn gar zu selten ist der Reiche geneigt, den Arbeiter als seinen Bruder zu betrachten. Suchet vielmehr Männer von aufrichtiger Überzeugung, entschlossene, tätige Männer des Volkes von geradem Sinne und erprobter Ehrenhaftigkeit. – Gebt denjenigen den Vorzug, welche nicht um Eure Wahlstimme buhlen; denn das wahre Verdienst ist bescheiden. Es ist die Sache der Wähler, ihre Männer zu kennen, und Letztere dürfen sich nicht hervordrängen. Solltet Ihr auf diese Betrachtung einigen Wert legen, so sind wir fest überzeugt, dass es Euch gelingen wird, die wahre Volksvertretung einzusetzen und Bevollmächtigte zu finden, welche sich niemals als Eure Herren aufspielen werden.“ (Abgeschrieben bei Jutta Ditfurth: Lebe wild und gefährlich, Kiepenheuer & Witsch 1991, S. 19 f.)

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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