Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit

Menschenbild Ist der Mensch des anderen Menschen Wolf oder Freund? Wir wurden gelehrt: Wolf. Menschen sind feindlich. Doch es gibt eine andere Sichtweise.Essay und Rezension zum Buch von Rutger Bregman.

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1 Rutger Bregmans Buch „Im Grunde gut“

Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“ [1] oder im Originaltitel «De Meeste Mensen Deugen/Humankind» bei De Correspondent Uitgevers, Amsterdam. So hat der niederländische Autor und Historiker Rutger Bregman [2] sein Buch getitelt.

Das Buch beginnt mit einer Erfahrung. Im zweiten Weltkrieg glaubten die Kriegsführer beider Seiten, man könne mit Bombardements der Großstädte die Stimmung in der Bevölkerung zersetzen, zum Chaos zwingen. Doch in der Not haben die Menschen, die alles oder vieles verloren hatten, zusammengehalten. Ich habe diese Geschichte ausführlicher im Parallelartikel [4] dargestellt.

Uns wird schon seit langer Zeit erzählt, Menschen seien sich spinnefeind, wenn sie nicht durch ein Staatswesen kultiviert werden. Am vielleicht deutlichsten hat das Thomas Hobbes mit seinem Leviathan dargestellt [5]. Thomas Hobbes mit seinem Leviathan wird von Rutger Bregman als die eine Sicht auf den Menschen mehrfach zitiert. Die andere Sicht ist im Buch mit Jean-Jacques Rousseau [6] verbunden - „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ - Zitat aus dem ersten Kapitel seines Hauptwerkes „Du contrat social ou Principes du droit politique“ oder „Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des politischen Rechtes“ [7]. Diese beiden Sichtweisen werden gegenübergestellt und mit vielen Beispielen belegt.



2 Homo puppy

Rutger Bregman bringt eine Erklärung, warum der Mensch sich als im Grunde gut entwickelt haben könnte, und das genau diese Eigenschaft seine Überlegenheit über die Natur der sich ändernden Umweltbedingungen am Ende der Eiszeit begründet hat. Nach Bregman ist der Homo Neanderthalensis nicht etwa als erster Genozid vom Homo Sapiens ausgerottet wurden, sondern der Neandertaler war in seiner Eigenart nicht gewappnet für die sich ändernden Bedingungen und ist am Ende der Eiszeit als unangepasst an die neuen Lebensräume ausgestorben. Der Homo Sapiens hat dagegen mit seiner Eigenart der kollektiven Zusammenarbeit, des Wissens- und Erfahrungsaustausches diese Zeit gemeistert. Wenn Einer aus einer Horde eine Idee hatte, wie man besser Jagen oder Nahrung finden kann, hat er es den Anderen mitgeteilt. Nicht der Stärkste hat sich durchgesetzt mit Ellenbogenfreiheit und die anderen unterdrückt. Sondern die Gruppe hat gemeinsam gewonnen. Auch wenn eine Horde mit anderen Menschen zusammengetroffen ist, haben sie sich ausgetauscht. Sie haben mitbekommen, dass es gesünder ist, sich einen Mann aus einer anderen Horde zu suchen um Kinder zu bekommen. Die Frauen sind freiwillig gegangen, sie wurden nicht geraubt. Auch aus dem „Wilden Westen“, den Anfängen der Besiedlung Nordamerikas wird erzählt, dass Frauen und Mädchen lieber bei den Indianern geblieben sind, als sich „befreien“ zu lassen und dann ihrem Cowboy dienen zu müssen.

Rutger Bregmans Bezeichnung Homo puppy lässt sich nun frei „Der Mensch das Hündchen“ übersetzten, im Gegensatz zu „Der Mensch der Wolf“. Dafür liefert er auch eine passende Geschichte: In der 1960-ern wurde in der Sowjetunion eine Studie durchgeführt, ob sich Silberfüchse zähmen lassen. Normalerweise sind sie in Gefangenschaft extrem bissig. Die Experimente sind gelungen. Es wurden Pärchen zusammengebracht, die ein wenig zahmer waren und friedlich geschaut haben – und deren Kinder waren noch zahmer. So kann es sein, dass der Homo Sapiens sich am liebsten mit verträglichen Artgenossen gepaart hat – und diese waren dann noch verträglicher. Mit dieser Art war er erfolgreich, konnte besser Kinder bekommen und großziehen, und so haben wir die Auslese. Der Homo Sapiens hat sich also quasi selbst domestiziert, ist häuslich geworden. Vom Raubaffen oder Wolf zum braven Hündchen.

Rutger Bregman bringt einen Vergleich mit den Bonobo-Affen, früher auch als Zwergschimpansen falsch eingeordnet. Ganz anders als Schimpansen, die sich auch mal bekriegen, nun ein Zitat aus [1], Teil 3, 11. Kapitel Wie Macht korrumpiert, Abschnitt 2:

In Wirklichkeit ist der Bonobo ein völlig anderes Wesen. Im 4. Kapitel haben wir bereits gesehen, dass sich das Tier, genau wie der Homo puppy, selbst domestiziert hat. Bonobo-Weibchen scheinen bei diesem Prozess die Hauptrolle gespielt zu haben. Obwohl sie körperlich schwächer sind, machen sie gemeinsame Sache, wenn ein männlicher Bonobo ein Weibchen belästigt. Im Extremfall beißen sie seinen Penis entzwei.{[4]} Die Folge? Die Bonobo-Weibchen können sich aussuchen, mit wem sie sich paaren, wobei sie den freundlichsten Kerlen den Vorzug geben.

3 Die dunkle Seite des Homo Puppy

Der Mensch ist nicht dem anderen ein Wolf. Er ist ein Hündchen, der gern zusammen mit anderen lebt, sich austauscht, das Gute will.

Doch die Kehrseite eines solchen Verhaltens ist auch, der brave Hund folgt seinem Herrn, egal was der im Schilde führt. Wenn der Herr sagt „beiß“, dann tut der brave Hund das.

Rutger Bregman bringt einige Beispiele, so das Standford-Prison-Experiment [11], wobei dieses Experiment nach einigen Kritiken eben nicht zeigt, dass Menschen zu Gewalttätigkeit neigen. Es zeigt aber, dass Menschen sich beeinflussen lassen und so zu Gewalttätigkeit kommen.

Ein anderes Thema ist Adolf Eichmann, der Organisator der Konzentrationslager. Im Bregman-Buch [1] im 8. Kapitel behandelt, bei dem es auch um das Stanley Milgram Experiment geht [12]. Das Thema Adolf Eichmann wird auch ausführlich behandelt in einem langen Podcast des Deutschlandfunks [13]. Menschen hatten mitgemacht. Einige von ihnen hatten selbst konkretisiert was „von oben“ nur als etwaiger Plan kam, die Organisatoren der Gräuel des Hitlerregimes. Unterstellt nicht weil sie per sé böse waren, sondern weil sie dachten, sie machen das Richtige. Mir ist eine Geschichte persönlich erzählt worden. Kriegsende, die Amerikaner waren im Anmarsch. Im Radio kam die Nachricht „der Krieg sei zu Ende“. Die Großmutter meiner Bekannten kommentierte das mit einem leisen „Gott sei Dank“. Der Volkssturmführer, der zum Mitmachen aufforderte wollte hörte dies. Doch kurz danach kam die Meldung „doch nicht zu Ende“ . Daraufhin richtete er seine Pistole gegen die Großmutter meiner Bekannten und hätte beinahe abgedrückt. Er dachte, er mache das Richtige. So wie es ihm beigebracht wurde. Diese Situation ging noch einmal gut, der Befehlshaber des Volkssturmführers trat hinzu, hat die Situation sofort erfasst und den allzu eifrigen Volkssturmführer beiseite genommen, ihm draußen wahrscheinlich erzählt, dass der große Führer sich das Leben genommen hat, oder was auch immer.

Menschen lassen sich verleitet mit ihrer Gutmütigkeit. Das betrifft nun nicht nur den Dienst für gewalttätige Führer. Es betrifft auch das tägliche Leben. Wir lassen uns verführen von Konsumangeboten für Dinge, hinterfragen zu wenig ob wir das wirklich brauchen. Wir geben unsere Daten freiwillig preis, wir wissen nicht was mit den vielen Fotos, Suchanfragen und Posts geschieht, die bei Facebook & co freiwillig bereitgestellt werden, wir verlassen uns darauf dass wir doch nur etwas kommunizieren. Wenn der Staat irgendwelche Daten haben möchte, dann ist das Geschreie groß (Zensus und dergleichen). Aber dass die Dinge woanders geschehen, bekommen wir in Gutgläubigkeit des Hündchen gar nicht mit.

Das ist die Kehrseite. Dem Menschen stünde etwas mehr Aufmerksamkeit für die Dinge um sich gut.



4 Die Herrschaft des Menschen über den Menschen

Doch seit wann gibt es Über- und Unterordnung, Herrscher und Unterdrückte? Nach Rutger Bregman haben sich Ellenbogenfreiheitstypen, Menschen die über Andere bestimmen wollen, in den Zeiten der gemeinsam agierenden Jäger und Sammler selbst aus der Gemeinschaft herauskatapultiert. Sie hatten keine Chance, andere zu unterdrücken. Es gab auch nicht genug, die sich unterdrücken ließen. Denn zum Unterdrücken braucht man ja auch unterwürfige Helfer. So groß waren die Horden nicht. Eine andere Horde besiegen und unterdrücken – das ließen die sich nicht gefallen. Schließlich musste man gemeinsam jagen und sammeln und wollte auch gemeinsam reden, tanzen, sich austauschen.

Doch Menschen wurden immer mehr. Sie zogen zusammen, wurden sesshaft als Ackerbauern und Viehzüchter. Und nun konnten sich wenige aus der Masse, mit List, sich als die Anführer aufspielen. Sie fanden ein paar Helfer unter ihren Freunden, sammelten das zusammen, was nun als Mehrprodukt reichlich über war, verteilten es wenn Not war, und überlegten sich eine Autoritätsgebung. Mit besserem Wissen ausgestattet sagten sie Fluten und Regen voraus, wichtig für die Ernte, und sagten, sie seien mit dem Sonnengott, dem Regengott oder wem auch immer verbunden.

Es war also das Mehrprodukt, das ihnen die Macht gab. Ganz so wie es schon Karl Marx und Friedrich Engels in dem Büchlein Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats“ [8] beschrieben hatten. Basierend auf den damaligen Forschungen von Lewis Henry Morgan war dort von einem Matriarchat, der Herrschaft der Mütter die Rede, die dem heute bekanntem Patriarchat gewichen ist. Diese Theorie hat sich zwar nicht halten können, doch sind Rutger Bregman Ausführungen ähnlich. Er schreibt im Teil 1 5. Kapitel Der Fluch der Zivilisation, 4: „Vor allem Frauen zahlten einen hohen Preis für das Sesshaftwerden an einem Ort. Mit der Erfindung des Privateigentums und der Landwirtschaft ging die Zeit des Proto-Feminismus zu Ende.“ Vom Marx-Büchlein schreibt Rutger Bregman zwar nichts, aber ich hatte es mit Interesse schon zur Schulzeit gelesen. (Es war nicht ´mal Pflichtlektüre.)

Lässt sich das beweisen? Nun ja, anhand Scherben und Ausgrabungen, die freilich einer Interpretation bedürfen. Bis vor kurzem hat man bei jedem Grab, dem ein Schwert beigegeben ist, geglaubt, darin müsse ein Mann liegen, ein König. Fand man eine Frau (nach Genanalyse) dann war es wohl die mit bestattete Gattin und der nicht vorhandene König ist wohl grabgeräubert worden. Erst in letzter Zeit kommen immer mehr Archäologen zur Erkenntnis, dass auch eine Frau mit Schwert dort liegen könnte.

Wie ist dies genau vorgegangen, das plötzliche Entstehen der Herrschaft weniger über viele. Rutger Bregman beschreibt im Teil 1 5. Kapitel Der Fluch der Zivilisation für die Zeit der Jäger und Sammler zunächst im Abschnitt 3:

Um zu verstehen, wodurch alles schiefgelaufen sein könnte, müssen wir 15000 Jahre in der Geschichte zurückgehen, als die letzte Eiszeit endete. Bis dahin war der Planet noch dünn besiedelt, und die Menschen haben die Kälte gemeinsam bekämpft. Es war kein struggle for survival, sondern eher ein snuggle (Kuscheln) for survival.{[1]} Wir hielten uns gegenseitig warm.

Aber dann veränderte sich das Klima. Das Land zwischen dem Nil im Westen und dem Tigris im Osten wurde zum Land, wo Milch und Honig fließen, in dem sich immer mehr Menschen niederließen. Hier war das Leben kein brüderlicher Kampf gegen die Elemente mehr. Es gab genug für alle. Und deshalb war es logisch, sich niederzulassen. Hütten und Tempel wurden errichtet. Es entstanden Dörfer und Städte. Die Bevölkerung wuchs.{[2]} Und wichtiger noch: Die Menschen begannen, Besitz zu erwerben.

Was sagte Rousseau doch gleich dazu? «Der Erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein» – damit ging es schief.

Zuvor, im Abschnitt 1 selbiges Kapitel gibt er an, was in der Jäger und Sammler-Zeit mit Typen passiert sein könnten, die sich aus der Gruppe herausheben wollten:

Natürlich hat es immer Menschen gegeben, die sich nicht an diese Ehrlich-teilen-Etikette gehalten haben. Aber damit gingen sie ein großes Risiko ein, denn wer sich arrogant oder gierig verhielt, konnte verbannt werden. Und wenn selbst das nicht half, gab es ein letztes Mittel:

Nehmen Sie einen Vorfall, der sich unter den !Kung ereignete. Die Hauptperson war /Twi, ein Mitglied des Stammes, das zuvor zwei Menschen getötet hatte und sich immer untolerierbarer aufführte. Die Gruppe hatte genug davon:

Und dann feuerten sie giftige Pfeile auf ihn, bis er wie ein Stachelschwein aussah. Er lag still da. Alle traten näher heran, Männer und Frauen, und durchbohrten ihn mit Speeren, bis er tot war.{[7]}

Anthropologen zufolge müssen sich solche Szenerien in prähistorischen Tagen von Zeit zu Zeit ereignet haben. Wenn jemand die Nase über den anderen rümpfte, rechnete die Gruppe mit ihm ab. So domestizierte der Mensch sich selbst. Die aggressiven Störenfriede hatten wenig Chancen, sich fortzupflanzen, während die freundlichsten Mitglieder der Gemeinschaft die meisten Kinder bekommen konnten.{[8]}

Hinweis für die Verweisklammern in den Zitaten: Diese beziehen sich auf das Originalbuch, sind dort kapitelweise aufzufinden.

5 Ende der Herrschaft Einzelner?

Im zweiten Buch zum Thema „Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit“ [15] steht auf Seite 94 am letzten Absatz eines Kapitels der einfache Satz: „Denn daran, dass etwas mit der Welt entsetzlich schief gelaufen ist, besteht kein Zweifel. Schließlich beherrscht ein sehr geringer Prozentsatz der Weltbevölkerung die Schicksale beinahe aller anderen – mit zunehmend desaströsen Folgen“.

Man muss also gar keine sogenannter „Schwurbler“-Meinungen aufgreifen, sondern nur die Literatur in einer bestimmten Breite erfassen, um sich nicht von dem allgemeinen „die Welt ist so schon in Ordnung, es gibt alles, es wird gesorgt“ einlullen zu lassen.

Erinnern wir uns zurück. Bis zur Zeit des Absolutismus galt immer die Machtfolge aufgrund der Erbfolge. Des Königs Sohn wurde wieder König. Genau das war auch der Grund, das Patriarchat durchzusetzen, laut [8], Ursprung der Familie…“. Mir fiel ein paar Jahre später nach Lesen dieses Büchleins auf, dass auch die Bibel voll von der Betonung des Patriarchats ist. Es war die Zeit, als dies durchgesetzt werden sollte oder musste, in der Zeit vor über 3000 Jahren. Die 10 Gebote stammen glaubhaft aus der Zeit vor König David, der vor 3000 Jahren in Jerusalem regierte. Wenn im 10 Gebot (nach Luther, Kleiner Katechismus) steht „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist.“, dann wird hier die Frau und das Vieh im gleichen Zuge als „Besitz“ benannt.

Diese starke Bindung der Herrschaftsfolge an die Abstammung in der Familie wurde mit der französischen Revolution 1789 mit dem Sieg über den Absolutismus überwunden. Frauenrechte waren zwar immer noch nicht auf der Agenda, die Frauenrechtlerin der Französischen Revolution Olympe de Gouges [11] wurde dafür aufs Schafott geschnallt. Aber immerhin. Etwa 150 Jahre später gab es dann endlich auch das Frauenwahlrecht, die Dinge brauchen ihre Zeit. Heute wählt man aller 4..5 Jahre frei diejenigen, die danach die Macht ausüben. Sie stammen nicht mehr voneinander ab, sondern sind frei gewählte Bürger. … irgendwie doch immer wieder die selben. Es gibt allerdings Mitspracherechte, die oft zu wenig genutzt werden. Deliberative Demokratie [10] ist ein Stichwort dazu. Bitte, Kritiker sollten jetzt nicht sofort sagen „das hätten wir ja in der Coronapolitik gesehen, dass das nicht funktioniert“. Recht haben sie, Theorie und Praxis stimmen manchmal nicht ganz überein. Aber es gab auch in dieser Zeit das Korrektiv der Straße (Demos), und ich habe das Gefühl, dass aktuell die Bedeutung der unabhängigen Willensäußerung von Teilen des Volkes höher geachtet wird als in und vor der Coronazeit. Die Demokratie ist (meiner Ansicht nach) heute noch in den Kinderschuhen, aber gut entwicklungsfähig.

Aber es gibt noch eine andere Herrschaftskaste als die Regierungen: Die Wirtschaft. Gemeint ist nicht der kleine Laden- oder Restaurantbesitzer, der über mich herrscht und mir das Geld abknöpft. Nein, der freie Markt hat etwas Gutes. Da kann man sogar mit Adam Smith übereinstimmen. Menschen sind unterschiedlich. Die Abschaffung des freien Marktes und Ersatz mit staatlichen Plänen im Kommunismus des 20. Jahrhunderts hat nicht funktioniert. Dieses System hat nur andere Herrscher hervorgebracht, die sogenannte Partei- und Staatsführung. Doch die Großkonzerne sind es, die uns bestimmen. Sie sind nur schwer zu kontrollieren. Die vielleicht ideale Demokratie kommt ebenfalls kaum gegen sie an. Macht und Lobbyismus wirken für sie.

Es scheint so, dass es eine neue Kaste der absolutistischen Herrscher gibt, die Französische Revolution hat die alten dynastischen Herrschaftshäuser abgeschafft. Doch die Führer der Großkonzerne sind an ihre Stelle getreten. Es scheint so, dass die Überwindung der Stellung bestimmter Menschen über anderen als Herrschaft nicht überwunden ist.

6 Gute Eliten

Eine andere Sache ist es, wenn bestimmte Menschen aus der Gesellschaft heraustreten, sich protegieren oder protegiert werden als Wissende, die es besser können. Solange diese Menschen sich als Diener der Gesellschaft sehen, also ihr besseres Wissen allen zur Verfügung stellen, dann sind wir wieder bei den alten Verhältnissen der Jäger und Sammler. Eben weil manche in einigen Dingen schlauer waren, und ihr Wissen allen weitergegeben haben, haben sich die Fähigkeiten der Menschheit derart progressiv herausgebildet. Wissen basiert auf Spitzenleistungen, die der Breite zur Verfügung gestellt werden, einfach weitergegeben, ohne Bedingung, ohne bezahlen und ohne Herrschaft. Zwischen einer Wissenselite und der Machtelite wäre also deutlich zu unterscheiden.

In einem kleinen Essay, Beitrag in „Gedanken zum Tag“ Bayerischer Rundfunk Bayern-2 vom 01.06.2020 war folgendes zu hören:

Gute Eliten dienen allen, schlechte sich selbst. Nach meiner Wahrnehmung ist dieses Kriterium weitgehend außer Blick geraten, ja verloren gegangen. Wir leben in einer "Gleichheitsgesellschaft", die zwar ein Produkt der - begrüßenswerten - fortschreitenden Demokratisierung ist, jedoch zum Überschießen neigt. Dieser Entwicklung ist es geschuldet, dass ein Qualitätskriterium für Eliten weitgehend verschwunden ist und stattdessen eine (.) ideologisch motivierte Kritik an ihr dominiert: Weil alle gleich sind, kann es keine Eliten geben. Wenn es sie dennoch gibt, dann ohne eigentliche Existenzberechtigung, geschweige denn Legitimation. Womit sich jede qualifizierte Kritik an ihr erübrigt. Nur: Es gibt keine Gesellschaft ohne Eliten. Es kann sie nicht geben, ganz einfach deshalb, weil wir nicht alle gleich sind und auch nicht gleich werden, geschweige denn gleich gemacht werden können. (.) Eine Elitenkritik, die im Kern auf ihrer Negation beruht, schießt deshalb ins Leere. Fruchtbarer und auch angemessener wäre es (.), auf dieses alte, ja uralte Qualitätskriterium zu setzen, wenn es um die Beurteilung von Eliten geht: Wem dienen sie: sich selbst oder den andern?

Dieses Zitat stammt von der Schweizer Journalisten Katja Gentinetta [14]. In diesem Essay wurde der Unterschied zwischen Wissens- und Machteliten als „gute und schlechte Eliten“ artikuliert. Offensichtlich soll aber die Bedeutung der Wissenseliten hervorgehoben werden. Die Vorstellung oder Meinung, es dürfe keine herausragenden und bevorzugten Menschen geben, ist falsch. Die Wissenseliten, die ihre Fähigkeiten der Gemeinschaft zur Verfügung stellen, brauchen wir. Rutger Bregman scheibt dazu aus Sicht der Jäger – uns – Sammler – Zeit in [1] Teil 1 5. Kapitel Der Fluch der Zivilisation, Abschnitt 1:

Wenn Nomaden Machtunterschiede zuließen, waren diese vorübergehend und inhaltlich bedingt. Die Führer besaßen mehr Wissen. Fähigkeiten. Charisma. Wissenschaftler sprechen auch von «achievement-based inequality», einer «leistungsbezogenen Ungleichheit». Oder auf gut Deutsch: Man musste etwas können.

Diese gesamte frühgeschichtliche Gesellschaft basierte eben darauf, dass Einige etwas besser konnten, das der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt hatten und damit die gesamte Menschheit vorangebracht haben.

Doch ist die Herrschaft Einzelner über Andere überwindbar? Folgt man dem was in den letzten Jahren an Schriften erschienen ist, steht diese Überlegung im Raum.



7 Ist Rutger Bregman der Einzige der so etwas schreibt ?

… außer natürlich Jean-Jacques_Rousseau [5], den Bregman zitiert? Es scheint so, unsere Welt ist voll der Unterstellung „alle Menschen seien in Konkurrenz“. Es ist jedoch ähnlich wie bei der Kapitalismuskritik. Es geht die Mär um, der Kapitalismus würde die Menschheit überleben. Weil er so stark in unserer Gesellschaft verwurzelt ist und wie wir ja wissen das Sozialistische System“ versagt hat und besiegt ist. Ohne dazu hier vertiefen zu wollen, es kommt darauf an wo man hinschaut. Hinweise auf Nachteile des Kapitalismus und wie er sich möglicherweise abschafft gibt es sehr viele in der heutigen Zeit. Und auch eben zur Frage, „wie ist der Mensch – gut oder böse“ oder auch nur neue Erkenntnisse zur Entwicklung der Menschheit gibt es viele. So habe ich in unserer Kleinstadtbibliothek nach Abgabe des Bregman-Buches irgendwo daneben ein Buch gefunden „Anfänge – eine neue Geschichte der Menschheit“ von David Graeber und David Wengrow [15], ursprünglich in den USA erschienen. Der Titel ist sehr ähnlich. Im Buch (nur erst angefangen zu lesen) habe ich keinen Hinweis auf Rutger Bregman‘s Buch gefunden, diese Schriften sind offensichtlich gleichzeitig parallel und unabhängig entstanden. Auch in diesem Buch werden Jean Jacques Rousseau und Thomas Hobbes gegenübergestellt und verglichen. Doch dieses Buch ist eher archäologisch angelegt und Rousseau gerät in die Kritik, so war die Urgeschichte nicht. Aber sie war kein Krieg jeder gegen jeden. Das Buch scheint weitere Erkenntnisse zu beinhalten. - Sicherlich gibt es da noch mehr: Die Autorin Susan Neiman verweist in ihrem Buch „Links ist nicht woke“ [16] auf das Buch von Graeber und Wengrow [15]. Die Themen sind also präsent, aber zu wenig, nur in intellektuellen Kreisen?

Ebenfalls sehr interessant, Douglas Rushkoff [17]. In einem Deutschlandfunk Essay und Diskurs [18] erstausgestrahlt am 19.11.2023, Interviewer Andreas von Westphalen, ist von Rushkoffs Begegnung mit fünf Superreichen und ihren Fragen, wie sie ein kommendes Fiasko überleben können, die Rede. Rushkoffs Buch dazu: „SURVIVAL OF THE RICHEST“. Es lohnt sich jedenfalls, die Sendung nachzuhören [18]. Ein kleiner Ausschnitt daraus zitiert bezogen auf das Denken der Superreichen:

Alle Arten und die Natur, wie Darwin bewiesen habe, konkurrierten miteinander, und der Markt komme der Natur am nächsten, weil wir alle miteinander konkurrierten und der Beste gewinnen solle. Aber wenn Sie Ihren Darwin wirklich lesen, werden Sie feststellen, dass er [das]nicht sagt, … es gibt einen … einzigen Absatz über die Idee des „Survival of the fittest“. Aber der größte Teil des Buches Über die Entstehung der Arten befasst sich mit der Art und Weise, wie die Arten zusammenarbeiten und miteinander und untereinander kooperieren,

und später in der Erklärung:

von Westphalen: Diese Kooperation und die kooperative Seite des Menschen ist der Kern der Lösung, die Sie in Ihrem Buch vorschlagen, und der Titel lautet nicht zufällig Team Human. Was ist also „Team Human“ und wie kann es ein Gegenmittel gegen einige der Probleme sein, mit denen wir konfrontiert sind?

Rushkoff: „Team Human“ ist definitiv die Antwort. Was ich damit sagen will ist, dass Menschsein ein Mannschaftssport ist, dass wir es nicht alleine schaffen können, dass Menschen sozial sind, von Natur aus sozial, und dass alles, was uns hilft, sozial zu sein, unser Freund ist. Und alles, was uns daran hindert, sozial zu sein, ist ein Problem, etwas, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, wie Geld und Wettbewerb und soziale Medientechnologien, Click-Zahlen und Überwachung und Paranoia und Angst. Diese Dinge desozialisieren uns. Die Idee, dass die Wirklichkeit eine wettbewerbsorientierte Wirtschaft ist, bringt nicht die Art von Kooperation und Zusammenarbeit hervor, die wir brauchen, um zusammen zu arbeiten und zusammen zu spielen.

Später im Interview kommt eine nette Story mit Bob mit der Bohrmaschine. Anstatt eine Bohrmaschine einmalig benötigt im Supermarkt billig zu kaufen, frage Bob. „ Denn Bob hat all diese Werkzeuge. Er repariert ständig Dinge. Er ist einer dieser Reparierer-Typen. Und Bob leiht dir gerne die Bohrmaschine. … Aber die meisten von uns trauen sich nicht, das zu tun, zumindest in den USA, weil die meisten von uns unsozial sind. Wir haben Angst. Was bedeutet es, wenn mir Bob diesen Gefallen tut, was schulde ich dann Bob?“

Menschen sind von Natur aus sozial, mehr noch, in der Erkenntnis dessen und der Umgestaltung unseres unsozialen von Neoliberalismus geprägten Gesellschaft liegt der Schlüssel überhaupt zum Überleben der Menschheit. Wir, wir alle hier, müssen dies allerdings erkennen, realisieren, und was daraus machen. Meine Artikelserie als Kassandra im Freitag [19] beginnt mit der Vorstellung der Anarchie (Abwesenheit von Machtstrukturen, statt dessen eine regelbasierte Ordnung), äußert sich kritisch zur Aufklärung und der daraus entstandenen Technikgläubigkeit, und soll noch um einige Zukunftsvisionen erweitert werden.

8 Querverweise

[1] Rutger Bregman: „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“ Rowohlt-Verlag ISBN 978-3-498-00200-8 Eigene Website: https://www.rutgerbregman.com

[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Rutger_Bregman

[3] https://www.deutschlandfunk.de/rutger-bregman-warum-der-mensch-im-grunde-gut-ist-100.html Rezession zum Buch [1] in einer Deutschlandfunk-Sendung aus dem Jahre 2020

[4] https://www.freitag.de/autoren/kassandra/menschenbild-bombardements-oder-im-grunde-gut-eine-andere-sicht-auf-das-wesen-der-menschen: Über den Unsinn der Bombardements im zweiten Weltkrieg und ein falsches Menschenbild

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Hobbes: Artikel über Thomas Hobbes mit häufiger Erwähnung seines Hauptwerkes „Leviathan“.

[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Jacques_Rousseau: Artikel über Jean Jacques Rousseau, französischer Aufklärer

[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Vom_Gesellschaftsvertrag_oder_Prinzipien_des_ Staatsrechtes: Hauptwerk von Jean Jacques Rousseau

[6] de.wikipedia.org/wiki/Der_Ursprung_der_Familie,_des_Privateigenthums_und_des Staats

[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Olympe_de_Gouges Olympe de Gouges, siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Erklärung_der_Rechte_der_Frau_und_Bürgerin

[10] https://de.wikipedia.org/wiki/Deliberative_Demokratie: Wikipedia-Artikel, der die Möglichkeit der Mitsprache bei politischen Entscheidungen darstellt.

[11] https://www.tagesschau.de/wissen/forschung/stanford-prison-experiment-100.html Tageschau-Kommentar zum Standord-Prison-Experiment des US-Psychologen Zimbardo

[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Stanley_Milgram mit Erläuterungen des Stanley-Milgram-Experiments zur Hörigkeit gegenüber Autoritäten

[13] https://www.deutschlandfunkkultur.de/lange-nacht-raul-hilberg-pionier-der-holocaust-forschung-dlf-kultur-5ae33582-100.html: Bericht über Mechanismen, wie die Gräueltaten in der Zeit der Hitlerdiktatur nicht nur „von oben“ verordnet wurden

[14] Gedanken zum Tage, Link auf den Sendebeitrag nicht mehr vorhanden, Quellenangabe: Entnommen aus: Katja Gentinetta „Eliten in der Politik: Wem dienen Sie?“ in: „Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie“, Philosophicum Lech, Bd. 23, hrsg. von Konrad Paul Liessmann, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2020

[15] David Graeber, David Wengrow: „Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit“, Klett-Cotta Verlag Dritte Auflage 2022, ISBN 978-3-608-98505-5, Originalausgabe englisch: „The Dawn of Everything. A new History of Humanity“ by Allan Lane, Penguin Random House, 2021 London, New York

[16] Susan Neiman „Links ist nicht woke“, Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München, 1. Auflage 2023, ISBN 978-3-446-27802-8, Originalausgabe englisch: „Left Is Not Woke“ by Polity Press, Cambridge / Hoboken

[17] https://rushkoff .com/ Homepage von Douglas Rushkoff: US-amerikanischer Autor, Dozent, Kolumnist, Musiker, https://de.wikipedia.org/wiki/Douglas_Rushkoff

[18] https://www.deutschlandfunk.de/essay-und-diskurs-100.html: Interview von Andreas von Westphalen mit Douglas Rushkoff zum Thema „Die Angst der Tech-Milliardäre vor ihrem Personal“: „Welches Welt- und Menschenbild beherrscht das Denken der Tech-Milliardäre in Silicon Valley, die zunehmend auch unser Denken bestimmen? Wie können wir uns den Auswüchsen dieses Tech-Mindsets entgegenstellen?

[19] https://www.freitag.de/autoren/kassandra Meine Artikelserie in der Freitag-Community



Hartmut Schorrig, 22.01.2024

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