Wenn keiner mehr ans Telefon geht: Die Digitalisierung der Gesundheit
Meinung Die Digitalisierung des Gesundheitssystems ist superpraktisch, eigentlich. Aber sie diskriminiert Menschen, die nicht im Internet zu Hause sind und macht einsam. Ausblick auf eine Dystopie
Gibt es so bald nicht mehr: Arzthelferinnen am Telefon
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Gläserne Patientenakte? Problembär Datenschutz? Dystopie? Kybernetischer Kapitalismus? Ach was, warum theoretisch, wenn es auch praktisch geht. Die neuen digitalen Gesundheits-Services sind einfach super praktisch – jedenfalls für Menschen wie mich, die quasi im Internet wohnen, mit Apps in allen Zimmern.
Beispiel Termin online buchen: Bei der ständig übervollen Orthopädie-Praxis geht schon seit gefühlt Jahren zweimal am Tag, wenn überhaupt jemand ans Telefon. Mega nervig. Wie praktisch also, wenn der Mensch im digitalen Anthroprozän einen Termin über eine vertrauensvolle, zentrale Online-Terminvergabe, (also auf einer privatwirtschaftlich betriebenen Plattform wie doctolib, sonst würde es ja nicht funktionieren), buchen kann. Ei
chen kann. Einzige Voraussetzung. Der behandelnde Arzt macht mit. Denn das Portal ist nicht gratis für den Arzt, für den Kunden natürlich schon. Außerdem: der Mensch muss natürlich ein Internet haben. Und, wenn nicht, sagt man jetzt mal mit der Überheblichkeit einer (noch) digital Versierten: wird es ja wohl irgendeinen Verwandten geben, der das für eine „Tante Sophie“, die auch nur über ihre Leiche Online-Banking machen würde, fix erledigen kann. Leute wie Tante Sophie oder Peter, die ihre Kontoauszüge, lach, noch am Schalter abholen, sie sterben ja aus, denkt unsereins, jedenfalls so lange man noch voll am digitalen Leben teilzunehmen in der Lage ist.Okay. Die Fachärzte sind bekanntlich mindestens so überbucht wie ein Ferienflieger, das löst auch die Digitalisierung des Gesundheitssystems nicht. Tante Sophie (oder Peter), die in unserem Fall nicht auf dem albernen Land, sondern in einer Großstadt lebt, mit G5-Netz, bekommt aber wenigstens einen raschen Termin bei einem Arzt in Weiterbildung, (was immer das heißt). Und der Arzt in Weiterbildung hat Einblick in ihre digitale Akte. Also ihre Krankengeschichte. Was praktisch ist. Der Arzt in Weiterbildung verordnet Tante Sophie ein MRT. Wie praktisch, dass sich Sophie (oder für sie ihr Patenkind Jens) jetzt auch einen Termin fürs MRT online buchen kann. Irgendwo in der Stadt. Denn das kann sie doch gleich mit einem Ausflug verbinden. Die Schonhaltung bringt ja nichts, hatte der Arzt gesagt. Also mit den Öffis zum MRT. Medizintourismus der Mittelklasse für die Mittelklasse. Klingt doch gut. Die Entmenschlichung des GesundheitssystemsDie Online-Terminvergabe ist ein Win-Win-Tool für alle – in einer idealen Welt. Denn die medizinische Fachkraft am Tresen kann sich in dieser Welt wichtigem (digitalen) Papierkram widmen (und den Patient:innen vor Ort). Womöglich ist sie jetzt freundlicher. Denn sie wird jetzt auch besser bezahlt, weil das digitale Terminmanagement nicht so teuer für den Arzt ist, wie eine lebende Person am Telefon, die manchmal zum Beispiel wegen Rückenschmerzen ausfällt.Oder ausfällt, weil dem Kind das Auge juckt. Nächstes Beispiel, Check-In beim Videoarzt der teleclinic: Die Mutter ahnt, das ist zu 90 Prozent eine Bindehautentzündung. Dafür braucht sie jetzt nicht einen Tag freinehmen (siehe oben), mit dem Kind zum überfüllten Kinderarzt rennen und sich noch mit dem Kind in der Praxis live und in Farbe eine fette Erkältung abholen. Für das juckende Auge ihres Kindes ruft sie per Videochat einen Online-Arzt vielleicht aus München an, bei dem sie vorher online einen Termin gebucht hat. Die versierte Online-Mutter hat sich dafür schon vorher mit den Versichertendaten registriert. Die Abrechnung läuft jetzt ganz easy über die Krankenkasse. Das E-Rezept wird an die nächstliegende Apotheke weitervermittelt. Also wenn das nicht die Zukunft ist.Wer könnte da etwas dagegen haben? Scheint ja auch niemand etwas dagegen zu haben. Die Gesundheitsdaten und der Datenschutz sind vielleicht auch einfach nicht das Problem. Das Problem ist das Drumherum. Warum, fragt sich Sophie, fühlt sie sich nach ihren Terminen jetzt anders krank und irgendwie leer und erschöpft, geradezu ohnmächtig? Das MRT fand in einem Stadtviertel statt, erzählt sie, in dem sie sich komplett fremd fühlte. Der Abend-Termin fand in einem Keller statt, im Hinterhof. Kein Mensch an der Rezeption. Das Reinigungspersonal fing schon mit dem Wischen um die Füsse herum an. Dazwischen die Wartenden mit Maske, jeder mit dem Smartphone im Gange, das Reinigungspersonal ohne Maske, an den Seiten ein trostloses Aquarium mit dystopischen Fischen. Warten.Schneller zum Online-TerminWährend der Mann in den Schlappen um sie herum feudelt und kein Wort sagt und keiner mehr an der Rezeption sitzt und man nicht so genau weiß, wie lange das noch dauert, weil ja niemand redet. Endlich ist sie an der Reihe. „Sie haben Platzangst? Am besten für uns beide, wenn wir das schnell hinter uns bringen“, sagt die MTA. Sie meint: Also jetzt keine Faxen machen. Gegen 21:45 Uhr geht Sophie mit einem überraschend alten Datenträger nach Hause, einer CD. Die hat jetzt so gar keinen Placebo-Effekt. Und ihre Tasche hält sie fester als sonst, albern, so alt ist sie doch gar nicht. Hoffentlich würde der Befund vor dem nächsten Termin beim Orthopäden ankommen, grübelt sie. Sollte doch möglich sein in diesem digitalen Zeitalter. Andererseits: Der Karsten mit der Prostata-Krebs-Diagnose wartet jetzt schon lange auf seinen Befund, damit die Chemo eingeleitet werden kann. Freundin Ulrike meint später: „Ein MRT in dem Saftladen?“ Das ist Sophie jetzt auch neu, dass die klaustrophobe Röhre schlampig scannen kann. Jetzt ist schon wieder ein bisschen Vertrauen dahin.Beispiel Ulrike, (ihr Name steht hier jetzt ebenfalls stellvertretend für all die namenlosen Patient:innen). Ulrike hat sich erst über den schnellen Online-Termin bei irgendeinem Dermatologen gefreut. Hauptsache nicht drei Monate warten oder sechs. Gleich als Entrée schnauzt sie die Arzthelferin jetzt an, sie müsse für eine „ausgefallene Operation“ 35 Euro bezahlen. Ausgefallene Operation? Doctolib hätte doch dreimal geschrieben! Ja, äh, was? Wieso niemand sie angerufen habe? „Wir rufen nicht an. Sie hätten das lesen müssen!“ Ulrike wartet. Hofft, dass sich das Problem noch löst, sobald der Arzt (in Weiterbildung) sich ihren Fall anschaut, vor allem die komischen Muttermale.Die Digitalisierung des Gesundheitssystems hat unbestritten Vorteile: Eine schriftliche Einladung zur Mammografie bekommt Ulrike schon alle zwei Jahre. Wieso nicht auch zum kostenlosen Hautscreening? Praktisch wäre das. Aber jetzt wartet Ulrike erstmal auf den Arzt in Weiterbildung. Während sie wartet, kommt jemand rein mit gebrochenem Deutsch, fragt die Arzthelferin, die Türkisch aussieht, ob sie Türkisch spricht. Nein! Kommt eine andere Frau rein, ob sie einen Termin vereinbaren könne. Nein! Nur online! Bei der Oma (Erkennungszeichen: Rollator) macht sie eine Ausnahme. Es ist schuppenflechtenstill in der Praxis.Von der Digitalisierung verschlucktKlingelt ja kein Telefon mehr. Geht keiner mehr ran. Genauso wie bei der Zahnzusatzversicherung. Nachdem sie die Versicherung abgeschlossen hatte, klagt Ulrike ihrer Freundin Sophie, würde niemand mehr mit ihr sprechen, alles sei digitalisiert, auch die Sachbearbeiter. Nur noch Briefe würden mit ihr sprechen und etwas wollen. Den Heil- und Kostenplan wollten „sie“ haben. Den können Zahnarztpraxis und Krankenkasse jedoch nicht digital versenden. Datenschutz. Nach kafkaesken Hin und Her fotografiert die nette Zahnarzthelferin, die vielleicht nicht mehr so genannt werden will, den Heil-und Kostenplan mit ihrem Smartphone und sendet ihn Ulrike per Mail und sie sendet ihn der Zahnzusatzversicherung. Die Digitalisierung tut so, als würde alles einfacher werden, dabei werden immer wieder echte Menschen verschluckt. Sie fallen in Tools und tauchen nie wieder auf. Die Deutsche Bahn übrigens schafft ihren Telefonservice auch sukzessive ab. Demnächst geht da keiner mehr ans Telefon. Außer für Gruppenreisen. Da brauchen dann bald noch viele mehr ein Patenkind namens Jens, der ein Ticket bucht oder den Termin beim Arzt. Jens muss aber auch dann die E-Mails stetig checken, falls sich der Fahrplan ändert oder irgendwelche Dokumente beim Arzt noch eingereicht werden müssen, noch Kleingedrucktes versendet wird. Das Leben, ein roter Faden aus vergessenen Passwörtern und Resets. Alles wird anonymer, billiger, trauriger. Die Karteileiche pardon der Patient soll kontaktarm gesund werden. Seine Gesundheit (oder Krankheit) selbst managen. Die Digitalisierung des Gesundheitssystems und Digitalisierung aller Lebensbereiche ist dystopisch. Sie ist inhuman. Sie trennt die Menschen in die, die Internet können und Leute wie Tante Sophie, die erst mit Oma-Status noch von Menschen wenigstens wie alte Menschen behandelt werden. Viele Sophies haben auch kein Patenkind. Oder Leute wie Ulrike, die Online-Affinen, sie werden ja trotzdem blöde herumgeschubst. Wenn wir nicht operieren, macht das 35 Euro!