Ungleichheit Online-Banking, Streaming, Shoppen: Immer mehr Menschen, nicht nur ältere, verpassen den Anschluss an unsere moderne Kommunikation – und verlieren so den Zugang zur Gesellschaft. Was hilft?
Viele ältere Menschen verlieren ohne moderne Technologien den Zugang zur Gesellschaft
Collage: der Freitag, Material: Midjourney, Unsplash
„Ohne die Hilfe meiner Kinder ginge gar nichts“, sagt sie. Und nimmt einen großen Schluck Kamillentee aus der Porzellantasse. Hannelore G.*, Jahrgang 1951, zwei Kinder, Sachbearbeiterin im Ruhestand, sitzt am Tisch unter dem großen, beigen Lampenschirm und faltet die Hände. Sie mache sich keine Illusionen. „Ich weiß zwar, was ich will. Aber nicht, wie ich da hinkomme.“ G. schenkt mehr Tee nach, schiebt ihr Handy über den Tisch. „Ich nutze nur alte Handys von meinen Kindern. Die Apps hat mein Sohn installiert. Ein paar davon nutze ich. Whatsapp zum Beispiel und die Wetter-App.“ Mit ihren Fingern deutet die 72-Jährige auf die bunten Icons. Legt das Handy dann wieder neben sich und sagt: „Aber das funktioniert nur, weil i
l ich Kinder habe, die mir da helfen.“Die Statistik gibt ihr recht. Gerade ältere Generationen, die nicht mit Smartphone und Co. aufgewachsen sind, tun sich schwer, ohne Hilfe Zugang zu modernen Technologien zu finden. Aber sie sind nicht die Einzigen, die gerade auf der Strecke bleiben. Digitale Ungleichheit belegt regelmäßig die vorderen Plätze auf der Liste der größten Zukunftsrisiken im Global Risks Report des Weltwirtschaftsforums, das heißt: Die Frage, wen die Gesellschaft beim Lernen der neuen digitalen Anwendungen mitnimmt und wen nicht, wird die soziale Ungleichheit der Zukunft massiv beeinflussen. Eigentlich absurd – war die Vision des World Wide Web nicht im Gegenteil, dass das Netz als großer Gleichmacher fungieren könnte? Wieso scheint das Demokratieversprechen des Internets so ein Trugschluss zu sein?Das Dilemma: Gerade diejenigen, die am meisten von einer Innovation profitieren könnten, nutzten diese nicht – das sagt die Soziologin Nicole Zillien. Sie ist Professorin an der Universität Koblenz und forscht zum Thema digitale Ungleichheit. „Gerade ältere Menschen könnten ja von Online-Anwendungen profitieren, weil sie weniger mobil sind.“ Reisebuchungen und Bankgeschäfte online, das kann so manchen Gang ersparen. „Aber ausgerechnet diese Gruppe nutzt diese dann nicht.“ Der Grund: Oft fehlten, wenn nicht die Geräte, dann die Kompetenzen. „In der Wissenschaft nennt man das: Innovativeness-needs Paradox.“ Es gelte die Verstärker-These: Ungleichheiten werden dann durch Digitalisierung verstärkt, wenn die ohnehin sozial benachteiligten Gruppen nicht empowert werden. Besonders während Krisen wie der Corona-Pandemie sei dies zu spüren gewesen.Hannelore G. nickt: „Beim Impfzentrum digital anmelden – das habe ich ohne meine Tochter nicht geschafft. Ohne Hilfe wäre ich da aufgeschmissen gewesen.“Sind das Fake News? Ist das KI?Fehlende Nutzungskompetenz ist aber längst nicht nur unter den älteren Generationen ein Problem. Der Gegensatz zwischen Informationsflut und Demokratisierung von Wissen überfordert viele. „Einerseits ist das globale Wissen rein theoretisch nur einen Mausklick entfernt und nicht mehr exklusiv bestimmten Gruppen vorbehalten“, so Sandy Jahn von der Initiative D21, die seit 2001 die Digitalisierung in Deutschland wissenschaftlich begleitet. „Andererseits stellt die Informationsflut die Menschen vor neue Herausforderungen.“ Zwar trauten sich über 80 Prozent der Bevölkerung zu, im Internet alle Informationen zu finden, die sie bräuchten. „Aber nur die Hälfte der Menschen glaubt, auch beurteilen zu können, ob die Informationen, die sie gefunden haben, richtig sind.“Das ist ein Riesenproblem. Und eines, das sich in Zukunft durch KI-generierte Inhalte, Stimmen-Imitatoren, Bot-Armeen und Co. weiter verschärfen wird. Da helfe dann auch alle Digital-Affinität nicht, meint Jahn: „Für einen Menschen ist es kaum möglich, KI-generierte Inhalte von menschlichen zu unterscheiden. Da scheitern die Digital-Affinen genauso wie alle anderen.“ Das lässt gerade diejenigen, die ohnehin schon unsicher sind, noch weiter zurückfallen.Enkeltrick und Co. sind Erfahrungen, die viele schon gemacht haben. Auch Hannelore G. „Ich habe gestellte Telefonanrufe bekommen“, erzählt sie. „Und über Whatsapp hat sich jemand als meine Tochter ausgegeben. Ich traue mir deswegen nicht zu, Apps selbst aufs Handy zu laden.“Um die 2000er Jahre herum lautete die Frage noch, wer online war und wer nicht. Mittlerweile liegt der Anteil der Offliner*innen lediglich bei rund sechs Prozent. Die heutige Frage lautet eher: Wer ist fähig und wird befähigt, in diesem reißenden Strom namens Informationsflut für sich profitabel zu navigieren? Da hat der pandemiebedingte Digitalisierungsschub nicht den erhofften Umbruch gebracht. Zwar hätten während Corona viel mehr Menschen digitale Anwendungen genutzt, so Sandy Jahn. Die digitale Kompetenz sei aber nicht in gleichem Maße gestiegen.Heißt: Digitales wurde vor allem deswegen mehr genutzt, weil man eben musste. Nicht, weil man wollte. „Das sehen wir jetzt an den größtenteils stagnierenden Zahlen.“ Was zeige: Eine Turbo-Digitalisierung aus der Not heraus funktioniere nicht. Um Menschen digital resilient zu machen – eine Kategorie, die eine zentrale Rolle im D21-Digital-Index spielt –, brauche es den Willen und die Fähigkeit, dem digitalen Wandel zu folgen: „Weil ich glaube, mir bringt das was.“ Hier hake es oft gerade bei den älteren Generationen, so Jahn.Neben ihrem Alter hat Hannelore G. aber noch ein ganz anderes Problem, das sie zeit ihres Lebens anfällig macht für digitale Ungleichheit: Sie ist eine Frau. Zwar werden die geschlechterbedingten Unterschiede bei der Nutzung kleiner, je jünger die Nutzer*innen sind, meint Nicole Zillien. Nur: Das gilt vor allem für die private Nutzung. Anders sieht es etwa in beruflichen Kontexten aus. Knapp die Hälfte der erwerbstätigen Frauen in Deutschland arbeiten in Teilzeit. Zugang zu digitalen Geräten und Homeoffice-Möglichkeiten haben aber vor allem Menschen in Vollzeitbeschäftigung – das heißt aktuell: vor allem Männer. Die Logik in vielen Unternehmen sei dann oft die, dass Vollzeitbeschäftigte priorisiert würden, meint Sandy Jahn: „Es sind diese strukturellen Unterschiede, die letztlich bestimmen, wie gut der Zugang zum Digitalen ist.“ Und wie dieser erlebt wird.Hier wurde die Pandemie einmal mehr zum Brennglas systemischer Asymmetrien: „Wir haben in einer Studie gefragt, ob das durch Digitalisierung möglich gewordene räumlich flexible Arbeiten eher als Vorteil oder als Nachteil wahrgenommen wird“, erzählt Jahn. Das Ergebnis: Grundsätzlich betrachteten Frauen und Männer die Möglichkeit gleichermaßen als positiv. Aber: Fragte man Männer und Frauen, bei denen Kinder unter 18 Jahren im Haushalt lebten, ging die Schere plötzlich weit auseinander – weil Frauen daheim nach wie vor den Großteil der Care-Arbeit übernehmen. Gerade im Tech-Bereich geben weiße cis Männer noch immer den Ton an. Vor allem in Entscheidungspositionen muss man Frauen oder andere marginalisierte Gruppen mit der Lupe suchen. Das ist ein Problem. Für die Tech-Bereiche, deren Produkte wie auch die Gesellschaft. „Wenn diejenigen, die Digitalisierung gestalten und damit auch gestalten, wie unsere Welt heute und morgen aussehen wird, nur weiße cis Männer sind, dann ist das natürlich ein sehr eingeschränktes Bild der Welt“, sagt Sandy Jahn.Wen die KI noch umbringtDigitale Ungleichheit schafft Realitäten. Mit manchmal lebensverändernden Konsequenzen. Wenn etwa zu wenig Daten für eine Personengruppe erhoben werden – in Wirtschaft und Medizin ist es allzu häufig das weibliche Geschlecht –, dann gibt es verzerrte Ergebnisse in allen Systemen, die auf Künstlicher Intelligenz basieren, also auf Big Data. „In der Medizin führt der Gender Data Gap zu Fehleinschätzungen bei Diagnostik und Medikamentengaben“, weiß KI-Expertin Mina Saidze. Schon 2006 verwies das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in einer Studie darauf, dass viele Produkte allein mit Blick auf den standardisierten Mann entwickelt werden. Und damit diskriminierend wirken. Das reicht von Handys, die für Männerhände konzipiert sind, bis hin zu Airbags, „bei deren Dummy-Tests“, so Saidze, „weibliche Körper nicht berücksichtigt wurden“. Das Ergebnis: potenziell lebensbedrohlich.Gender ist dabei aber nicht die einzige Kategorie von Ungleichheit. Auch rassistische, ableistische oder gegen Menschen aus der LGBTQIA+-Community gerichtete Vorurteile werden in KI- und algorithmischen Systemen oft fortgeschrieben. Technologie ist nicht neutral. Nur kann man sich viel schwerer dagegen wehren. „Wenn ich von algorithmischer Diskriminierung betroffen bin, dann ist es gar nicht so einfach, einen Algorithmus bloßzustellen – im Gegensatz zu einem Menschen“, kritisiert Mina Saidze. „Digitalisierung verschärft immer dort die Ungleichheit, wo der Zugang zu digitalen Möglichkeiten eigentlich Vorteile schaffen würde, man diese aber nicht für sich nutzen kann“, warnt Sandy Jahn von der Initiative D21. Weil der Zugang fehlt. Oder die Kompetenz. Oder die Anwendungen selbst diskriminierend sind und man nicht die Möglichkeit hat, an deren Gestaltung mitzuwirken.Digitalisierung ist keine individuelle Entscheidung, sie kann nicht als nettes Add-on begriffen werden. Alltag, Arbeit, Auszeit – das ganze Leben wird darüber organisiert. Wir sind längst Weltbürger*innen der Cloud. Der Zugang zur digitalen Welt und die Kompetenz, sich in dieser zum eigenen Vorteil zu bewegen, werden zukünftig soziale Ungleichheiten produzieren – es sei denn, die Politik sorgt für eine gerechte Verteilung dieser Kompetenz. „Man darf es nicht dem Zufall überlassen, ob jemand die Chance bekommt, Digitalisierung zu nutzen, oder nicht“, mahnt Sandy Jahn.Immerhin: Hannelore G. erweitert konstant ihren digitalen Horizont. Nach Urlaubsreisen mit ihrem Mann stöbert sie zwar immer noch im Print-Katalog von Reiseanbietern. Aber: Beim Onlinebanking komme sie mittlerweile gut zurecht. Und sogar der Kirchenchor habe inzwischen eine Whatsapp-Gruppe, erzählt sie. In der Gruppe seien viele sogar noch älter als sie. Aber: „Nicht alle sind in der Gruppe. Es fehlen vor allem die, die keine Unterstützung von ihren Verwandten haben. Nicht alle aus dem Kirchenchor sind auf Whatsapp.“
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