Da seh ich auch das Mehl (4)

Philosophie aktuell Die Beschäftigung mit philosophischen Texten erfordert immer erst einmal, Scheu und Ehrfurcht zu überwinden. Dabei hilft eine gelassene Grundeinstellung.

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Ihre Freitag-Redaktion

http://www.klausfuerst.de/Bildquelle/schopen.jpgArtur Schopenhauer witzelte über seine Philosophen-Kollegen:
»Das Klappern der Mühle höre ich wohl, aber das Mehl sehe ich nicht.«
Mit einigen philosophischen Erkenntnissen, bei denen man das Mehl sieht und die bis heute ihre Aktualität behalten haben, beschäftigt sich diese Beitragsserie.

(siehe dazu auch Folge 1)

Man muss nicht jeden Baum erkundet haben, um dann zu sagen, ich habe diesen Wald kennengelernt.

Willkommen zurück in unserem kleinen Debattierklub. Es freut mich, dass doch immer wieder interessante Gedanken in das Kommentargeschehen eingebracht werden.

Lukasz Szopa brachte kürzlich eine gleichermaßen schöne wie treffende Allegorie:

"Betrachte den ganzen Literatur-Berg als einen riesigen Wald, jeder Text ein Baum. Geh dort instinktiv rein, ohne "Reiseführer" und "Karte", so wirst du von Baum zu Baum gehend den Wald erleben, glücklicher und weiser werden. Man muß nicht jeden Baum erkundet haben, um dann zu sagen, ich habe diesen Wald kennengelernt."

Ähnlich hilfreich kann es sein, philosophische Texte wie ein Kunstwerk zu betrachten. So wie der Maler mit Farben, der Musiker mit Tönen, so gestaltet der Philosoph mit Worten. Und ebenso wie die Sonate und das Gemälde nicht einfach nur die Realität wiederspiegeln, so reflektiert auch die philosophische Idee den jeweilige Seins- und Gefühlszustand des Künstlers. Das Kunstwerk erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, sondern auf Authentizität.

Das mag nach Gedankenspielerei klingen, doch für mich ist es ein Mittel gegen Verzweiflung. Verzweiflung, die schnell aufkommt, wenn man sich mit Philosophie zu beschäftigen beginnt und meint, das alles nicht im Ansatz verstehen zu können. Hier hilft es, wie an ein Kunstwerk heranzugehen. Wer sich einem Kunstwerk mit der Feststellung nähert "Ich verstehe nicht, was es sagen soll", der hat schon verloren. Er muss spüren, ob es in ihm etwas weckt, ob er es schön findet, was immer er auch mit "schön" verbindet. Wenn er keine Affinität spürt, dann ist es nicht schlimm. Dann kann er eben den Seins- und Gefühlszustand des Künstlers nicht nachempfinden oder (was mindestens genauso häufig der Fall ist) der Künstler hatte nichts zu sagen.

Ein Beispiel aus eigener Erfahrung. Herbert Marcuse ist für mich einer der prägendsten Philosophen gewesen. Zu seiner Kunstphilosophie jedoch konnte ich keinen Zugang finden. Wenn nun meine These zutrifft, dass der Philosoph auch ein Künstler ist, dann ist die Kunstphilosophie die abstrakteste Form der Kunst. Und wenn ich mit Marcuse hier nichts anfangen kann, dann deshalb, weil ich den Ursprung seines Fühlens und Denkens nicht nacherleben kann. Darüber muss ich nicht resignieren; vielleicht spielt der in meinem Leben keine Rolle, oder ich komme später noch dahin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus Fürst

Es ist die unüberwindliche Irrationalität, die dem Menschen den Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit versperrt.

Klaus Fürst

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