Erst die beiden Autobomben, die am 30. August in der Nähe von Büros der Strafvollzugsbehörde SNAI explodierten, dann die Geiselnahme von 57 Vollzugsbeamten in sechs von 36 Gefängnissen. Die Drogenkartelle, die in den vergangenen Jahren die Kontrolle über immer mehr Haftanstalten Ecuadors übernommen haben, wehren sich gegen seit einem Monat angestoßene Reformen im Strafvollzugssystem. Damit soll die Aufsicht des Staates über den Strafvollzug zurückkehren. Ein wichtiger Schritt in der Sicherheitspolitik der Regierung, die jahrelang zugesehen hat, wie ihr aus den Händen glitt, was sie hätte im Griff behalten müssen. Ein Laissez-faire dominiert seit 2018 die innere Sicherheit und zum Teil die Justiz.
Das tödliche Attentat auf Fern
t auf Fernando Villavicencio, den Präsidentschaftskandidaten des Movimiento Construye (Bewegung Baue), am 9. August durch ein siebenköpfiges Killerkommando scheint ein Umdenken ausgelöst zu haben. Weitgehend ungeschützt, war der investigative Journalist, der den Kartellen, aber auch der Korruption im Staatsapparat den Kampf angesagt hatte, nach einem Wahlkampfauftritt mit drei Kopfschüssen getötet worden. Anzeigen seiner Familie, mehr noch internationales Erschrecken haben die amtierende Regierung von Präsident Guillermo Lasso unter Druck gesetzt. Hinzu kommt massiver Unmut in der Bevölkerung. Sie lässt sich die Passivität der Behörden nicht länger bieten, die dem einst zweitsichersten Land des Subkontinents zusetzt.„Wie kann es sein“, so der Rechtsanwalt José Barahona aus Guayaquil, „dass bis Mitte Juli nur acht Prozent des Etats für Sicherheit abgerufen waren, obwohl Ecuador in Gewalt versinkt?“ Die Frage hat Innenminister Juan Zapata zuletzt oft zu hören bekommen. Doch sei er nicht allein für den exemplarischen Zerfall von Sicherheitsstrukturen verantwortlich, meint Fernando Carrión von der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLASCO) und kommt zu einem vernichtenden Urteil: Mit der 2018 erfolgten Auflösung des Justizministeriums, dem parallelen Verzicht auf das Sicherheitsministerium und massivem Sparen beim Strafvollzug seien Räume entstanden, in denen sich organisierte Kriminalität ausbreiten konnte.Dafür ist maßgeblich Staatschef Lenín Moreno (2017 – 2021) verantwortlich, der eine Kehrtwende von links nach rechts vollzog und sich vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gegen Kredite einen neoliberalen Sparhaushalt diktieren ließ. Gleiches gilt für den erzkonservativen Nachfolger Guillermo Lasso, unter dem der Sicherheitsapparat weiter fragmentiert wurde. In den 36 Haftanstalten des Landes waren bis vor kurzem nur 1.500 Vollzugsbeamte im Einsatz, die gut 32.000 Häftlinge zu beaufsichtigen hatten. Die Mindestanforderung der UN, ein Wärter pro zehn Strafgefangene, wurde krass unterlaufen. Ein Missstand, den die Regierung Lasso erst nach einer Inspektion der Kommission für Menschenrechte der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und der Vereinten Nationen korrigierte.Sie hatten Haftanstalten besucht, nachdem in 30 Monaten über 400 Menschen hinter Gittern gestorben waren. Seitdem wurden 1.400 neue Stellen für Vollzugspersonal eingerichtet, ohne die Kontrolle über die Haftanstalten zurückzugewinnen, wie die am 31. August erfolgte Geiselnahme von 57 Wärtern in sechs Gefängnissen zeigte. Dazu kam es nach der Verlegung von mehr oder minder prominenten Kapos der Drogenkartelle an andere Haftorte, darunter José Adolfo Macías Villamar alias „Fito“, Chef von „Los Choneros“, mutmaßlich die größte kriminelle Vereinigung Ecuadors, die über gute Kontakte zum mexikanischen Sinaloa-Kartell verfügt, womöglich von diesem gelenkt wird. „Fito“, der bis Mitte August im Gefängnis Guayas nahe Guayaquil einsaß, wurde in das Hochsicherheitsgefängnis La Roca verlegt. 3.600 Polizisten und Soldaten sicherten die Überstellung. Bilder des Delinquenten mit nacktem Oberkörper und langem Bart kreisten im Netz.Das Großaufgebot war nötig, weil der 43-jährige „Fito“ seine Leute auch aus der Haft dirigierte. Unverkennbar gebe es in den Gefängnissen Krieg zwischen den Kartellen, so Fernando Carrión. „Die Häftlinge bleiben oft sich selbst überlassen, werden von Vollzugsbeamten bewacht, die korrupt sind, gegen Entgelt Waffen und alles Mögliche hineinschmuggeln.“ Es gebe inzwischen ernsthafte Bemühungen, das zu ändern – für die Kartelle eine schlechte Nachricht. Die Geiselnahme von Ende August war vermutlich ein Indiz dafür, dass sie die Kontrolle über die Arrestanstalten verteidigen wollen. Die Netzwerke von „Los Lobos“ betrachten Gefängnisse wie Turi nahe der Kolonialstadt Cuenca und Cotopaxi im Hochland nahe der Stadt Latacunga als ihre Domäne. Das rivalisierende Kartell der „Los Choneros“ ist hingegen in den mit gut 7.000 Gefangenen belegten Zellentrakten von El Litoral präsent, unweit der Drei-Millionen-Metropole Guayaquil, die zu den 25 gefährlichsten Orten weltweit gezählt wird.Das bezeugt nicht nur viel Überwachungstechnik im Ausgehviertel Las Peñas, sondern ebenso die gedämpfte Stimmung an der mondänen Uferpromenade Malecón. Über den Hafen von Guayaquil wird zusehends mehr Kokain geschmuggelt, während sich die Drogenkartelle bis aufs Messer bekämpfen, um Routen zu sichern. In Guayaquil hat sich 2022 die Zahl der Morde pro 100.000 Einwohner im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Viele dieser Verbrechen werden hinter Gittern geplant und in Auftrag gegeben. Dass daran schlecht bezahlte Gefängniswärter nicht unschuldig sind, zeigt allein der Umstand, dass „Fito“ in seiner Zelle sowohl Champagner trinkt als auch Pressekonferenzen abhält. Der Pate hat zwischenzeitlich angekündigt, er wolle dem seit mehreren Jahren tobenden Bandenkrieg ein Ende setzen. Dass der sich bisher so ausbreiten konnte, ist für Gabriela Rivadeneira, Direktorin des Instituto para la Democracia Eloy Alfaro (IDEAL) und bis 2017 Parlamentspräsidentin, ein Beweis für das komplette Versagen der Behörden. Die Statistik spricht Bände, über 4.000 Morde gab es in Ecuador bisher allein in diesem Jahr. Für Rivadeneira die Bilanz eines gescheiterten Staates, der zu spät gegensteuern will.