Während sich dieser Sommer für viele bereits überraschend normal anfühlt, ist für die Kreativbranche wenig in Ordnung. Der britische Musiker Frank Turner schrieb diese Woche: „Einige Leute sind, soweit ich das beurteilen kann, nicht weit davon entfernt, ihre normalen Leben zu führen. Und das ist gut, ich freue mich für sie. Für andere ist das wirklich, wirklich nicht so.“ Großveranstaltungen wie Festivals und Konzerte werden bis auf wenige Modellprojekte nach wie vor verschoben. Zu unwirtschaftlich und unberechenbar die Konzepte. Zu groß die Angst.
Für die Festivalbranche heißt die Ziellinie nunmehr: 2022. Zwei Sommer ohne Bühne, Bändchen, Bier. Zwei Sommer ohne jene speziellen hedonistischen Soziotope, in denen neben Freund- und Lieb- vor allem das Wirtschaften eine große Rolle spielt. In Deutschland, einem der größten Musikmärkte der Welt, wurden vor Corona laut Bundesverband der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft knapp drei Milliarden Euro für Livemusik ausgegeben. Etwa 400 Millionen Euro Umsatz entfielen auf rund 600 Musikfestivals.
Dieser Wegfall ist frustrierend für Branche und Fans. Frustrierend ist aber auch, was zu erwarten bleibt, denn: Wenn Festivals 2022 zurückkommen, werden sie wahrscheinlich genau so aussehen wie 2019. Und 2009. Und 1999. Zumindest in einer Hinsicht.
Rock am Ring kündigte im Mai die erste Welle an gebuchten Künstler*innen für 2022 an. Ein Zusammenschluss von Frauen aus der Musikindustrie hatte nachgezählt: Gerade mal zwei von über 100 Acts waren weiblich, so die Initiative Music S Women*. Mittlerweile kommen mehr Namen hinzu. An dem Verhältnis – vier Prozent der Line-ups der vergangenen zehn Jahre waren weiblich – wird sich aber wenig ändern.
Rock am Ring verteidigte sich: „Auch wir sind Teil einer Industrie, in der sich Veränderungen nur langsam, effektiv und nachhaltig, etablieren. Wie jedes Business ist auch das Livemusikgeschäft gesellschaftlich ein Abbild der Realität und jedes strukturelle Umkrempeln ein Prozess.“ Mit anderen Worten: Die Leute wollen es so, oder es ist ihnen egal. Das fällt nicht schwer zu glauben, gemessen daran, dass die großen Festivals oft schon vor Bekanntgabe irgendeines Line-ups ausverkauft sind. Festivalbühnen sind Männerclubs. Und scheinbar stört das den Großteil der Besucher*innen seit Jahren kaum.
Welchen Einfluss diese selbstverstärkenden Effekte auf die Kreativwirtschaft haben, merkte kürzlich die Schweizer Musikerin Sophie Hunger im Spiegel an. Festivals seien Orte, an denen nicht allzu bekannte Künstler*innen mit ein wenig Glück vor Tausenden spielen könnten. Wenn Frauen davon ausgeschlossen werden, sei es für sie umso schwerer, den Kreislauf zu durchbrechen. Dass es schlicht zu wenige Frauenbands und Künstlerinnen gäbe, entpuppt sich ohnehin immer wieder als Mythos. Außerhalb von Deutschland sind deutlich ausgewogenere Line-ups möglich. Die britische Zeitung The Guardian kam nach einer Analyse von 31 Festivals zu dem Schluss, dass auch zu zwei Dritteln männliche Line-ups noch verbesserungswürdig seien.
Hunger schreibt: „Hört auf, Panels zu organisieren, hört auf, Argumente zu wälzen. Bucht Frauen!“ Auch die Initiative Keychange verfolgt diesen Ansatz. Eine freiwillige Verpflichtung zur paritätischen Besetzung von Line-ups und Orchestern soll männliche Monokulturen alt aussehen lassen.
Aber das wird nur funktionieren, wenn die Fans mitziehen. Sie sind nicht allein schuld an dem Ungleichgewicht in der Branche. Aber auch sie haben einiges in der Hand, wenn sie entscheiden, wo sie ihre Milliarden lassen werden – im ersten postpandemischen Festivalsommer, 2022.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.