Das erste Konzert nach eineinhalb Jahren Pandemie erinnerte mich an meine Führerscheinprüfung: Wie oft kam mir in den vergangenen Wochen der Gedanke, lieber nicht zu vielen Leuten von den gekauften Karten zu erzählen? Für den Fall, dass am Ende doch wieder irgendwas nicht klappt und man sich den passiv-aggressiven „Na, wie lief’s?“-Fragen stellen muss, auf die man dann hätte „gar nicht“ antworten müssen? Hängen nicht schon genug Tickets für verlegte, vertagte und abgesagte Veranstaltungen an meiner Pinnwand, auf welche die wenigen Gäste schadenfroh zeigen und sagen: „Hehe, da steht ja 2020 drauf.“
Aber schon Mick Jagger wusste: Wer zuletzt rockt, rockt am besten. Mein erstes Konzert unter postpandemischen Bedingungen war begrenzt, bestuhlt und doch betörend. Freitagabend vergangene Woche: In Leipzig sehe ich Pabst und Ilgen-Nur, und es ist alles wieder wie mit 16. Herzklopfen in der Schlange, nicht aus Angst vor der Ausweiskontrolle, sondern mehr wegen der Frage, ob das sächsische Sozialministerium Freiluftveranstaltungen für einfachgeimpfte braunäugige Männer zwischen 30 und 40 nicht doch kurzfristig wieder untersagt hat. Den Ausweis brauche ich neuerdings dennoch wieder so oft wie zuletzt an der Schwelle zur Volljährigkeit oder wie in dem einen Jahr mit Anfang 20, in dem ich aus irgendeinem Grund jedem dritten Streifenwagen ein Dorn im Auge war.
Wäre ich ein FDP-Wähler, hätte ich die vierstufige Einlassprozedur – negativer Test, Perso, Ticket, Registrieren – als übergriffig empfunden. Aber ich bin noch nicht komplett bescheuert und womöglich hätte ich den freundlichen Frauen auch die Schlüssel zu meiner Wohnung im Tausch gegen ein bisschen Gitarrenmusik überlassen. Dann verwandle ich mich vom gefühlten Teenie zum gefühlten Großvater: Mensch, gut seht ihr alle aus, und groß seid ihr geworden! Und kann es sein, dass hier alles immer teurer wird? Egal, ein Bier wirkt wie eine Handbremse auf der hügeligen Rodelbahn zur Midlife-Crisis, und dann tönt von der Bühne die frohe Botschaft: „Turning day into night, night into day, forever O. K“.
Hier und da geht etwas schief und mir wird klar, dass ich mich an kaum eines von den Konzerten erinnern kann, bei denen alles glatt lief. Dafür könnte ich detailreich beschreiben, wie Metalsänger mit Tourgrippe auf der Bühne verhalten fragten, ob jemand im Publikum zufällig professionell schreien könne oder warum die allermeisten Punksongs keine dünne E-Saite benötigten. Als ich mit 15 zum ersten Mal auf Konzerte ging, hatte ich Schwierigkeiten, meine Lieblingssongs zwischen all dem Menschenlärm und den technischen Verzerrungen der Live-Performance wiederzuerkennen. Eine Weile lang dachte ich, dass diese manchmal enttäuschenden Erfahrungen ihr Geld unmöglich wert sein können. Und dass Menschen, die Hunderte Euro im Jahr für Liveshows ausgeben, Illusionen für umso glaubhafter halten, je mehr sie dafür bezahlen. Wie FDP-Wähler.
Dann fällt mir wieder ein, wieso es im Streamingzeitalter überhaupt noch jemanden vor irgendeine Bühne zieht: Weil man hier sieht, dass das, was man hört, von Menschen gemacht wird; Menschen mit Talent und Macken, Fehlern und Finessen. Und weil man für einen Moment von dem Gefühl entbunden wird, ein ganz schön schräger Vogel zu sein, wenn man sieht, dass die Anderen auch so blöd nach vorn grinsen.
Im Lockdown konnte ich manchmal nicht genau sagen, ob eine Sache gestern oder vor einer Woche, im Herbst oder im Winter passiert war. Gespräche, Personen, Filme und Musik verschwammen zu einer großen, lähmenden Gesamterfahrung.
Am Morgen nach dem Konzert bin ich aufgewacht und konnte mich an alles lebendig erinnern.
Kommentare 3
Ein komischer Artikel.
Zu live gespielter Musik war ich gestern in Musikgeschäften unterwegs, da ich mir dachte in Bestuhlten Örtlichkeiten könnte man doch auch anderes an Musik darbieten.
Nun gut probieren wir Akustikgitarren aus und ja diese Fender ist super im schnorrenden Sound, wegen einem kürzeren Hals und erlaubt beim handhaben der Fingerbeweglichkeit besondere eigenwillige Effekte.
Schön wollen wir ein wenig small-talken mit den Verkäufern.
Sorry, es gab keine *innen als Verkäufer, da hier Männer ihre eigene Werbung gestalten.
Und siehe da, auch bei der Kundschaft die herum klimpert und beim Verkäufer, zeigt sich mir, dass die Fingerbeweglichkeit zu wünschen übrig lässt, aber alle meinen in ihrer Wahrnehmung, Sie hätten es drauf und seien dadurch unwiderstehlich.
Na ja, probieren wir mal das, was ich so klimper mit Verstärker aus und musste zu der vom Verkäufer empfohlenen Einstellung die Lautstärke zurück fahren, weil zu laut einfach Scheiße klingt und die durch die Fingerfertigkeit erzeugten Effekte bei der Fender untergehen.
Am Schluss bin ich für ein Live Set mit ca. 1.500 Euro dabei, um dies meinige Gitarren Geklimper mit unterstützen Beats als Konzertveranstaltung darbieten zu können, doch ich würde das gewohnte an Musik verstehen sprengen und es würde eine gewisse Ignoranz, wie bei den anwesenden Menschen in den denkmalschützerischen Musikgeschäften entstehen und alle klammern sich sofort wieder an ihr eigenes Werben, was ja kollektiv Unterstützung erfahren wird.
Gut, klimper ich für mich alleine mit den Gitarren weiter, die ich schon habe und spare mir die Investition von 1.500 Euro.
Und mit politischen Parteien, wie in diesem Artikel, hat das gar nichts zu tun, eher war dies ein aufmachen, hin zu einer möglichen Beschäftigung, um mit dem was ich kann Geld verdienen zu können, was nicht funktioniert, da ich mit der Fingerfertigkeit in anderen Horizonten unterwegs bin.
Danke für das small-talken und Euch allen noch ein schönen Tag.
Ein Artikel, dem vor viel, viel Andacht nichts hinzuzufügen ist ;-).
Ansonsten: Es geht NOCH dramatischer. Mit der neuen Flamme + Gästeliste-Eintrag auf Pogues-Konzert. Der mitbeteiligte Co-Veranstalter an Flamme ebenfalls interessiert; es benötigt etwas Nachdruck, dann lässt sich der Eintrag doch finden und BEIDE können rein. (Die Frage. ob Spider Stacy der bessere Pogues-Sänger ist oder aber Shane McGowan, spielte an dem Abend keine weitere Rolle mehr.)
Nummer zwei: Rosenstolz; ich höchstselbst habe Presse-Freiticket nobel einem Kollegen (oder einer Kollegin) zukommen lassen, mich kurzfristig jedoch anders entschlossen. Okay, ausverkauft – wir halten auf dem Graumarkt Ausschau. Letzte Option: Die Security lässt noch ein paar Leute rein. Auch diesmal: Nope. Die Dame vor mir nimmt es absolut unsportlich und lässt ihren Aversionen gegen das prollhafte Halbweltmilieu an der Tür freien Lauf. Selten so fremdgeschämt – und das NICHT deswegen, weil Leute halt nunmal peinlich sind, die nicht wissen, wann eine Chose gelaufen ist.
Bei Paolo Conte in Genua hat’s geklappt. Selbes Schema; wer zuletzt kommt (etwa Spätentschlossene wie ich), den fressen die Fische. Dann doch noch – ein Familienvater oder sowas, verkauft sein zweites Ticket. Die aller-allerletzte, die an dem Abend noch den Besitzer wechselte. Später: Stromausfall; Conte muß 45 Minuten unterbrechen. Trotzdem, oder gerade deswegen: die Aussicht vom Dach des des Teatre Carlo Felice auf den Piazza de Ferrari – traumhaft.
Natürlich gab es auch ein paar glückliche Momente; einige sogar. Oder jedenfalls begeisterte. Und die mittelmäßigen; ein paar Dumme waren auch dabei. Ja – es ist schon was anderes, die Leute auf der Bühne zu sehen. Anstatt die Musik ausschließlich via Konserve zu konsumieren.
Also hier eine Blaupause von dem was ich als Kopfwunder im Kopf hatte und das sprengt selbst bei mir den Rahmen des möglichen, da man hierzu eine Geschichte erzählen muss und man noch weitere Mitstreiter, singende Schauspieler*innen benötigt.
Falls man ein Programm in dieser Art und Weise erarbeitet, gibt es keine Garantie für Auftritte.
Man darf erst den öffentlichen Bestuhlten Raum finden, wo man dies auch gestalten darf und das ist verdammt schwer, da ja hier ein Konkurrenzwettkampf stattfindet und eh alle nur auf möglich erwartbare Geldeinnahmen dabei achten.
Was soll's, vielleicht funktioniert das und ich baue demnächst Kinderspielplätze.
https://soundcloud.com/andreas-prucker/kopfwunder-1