Ein Drittel wählte überhaupt nicht

Bundestagswahl Was wollen junge Menschen von der Politik? Die Forschung zeichnet ein widersprüchliches Bild. Und das hat Gründe
Ausgabe 40/2021

Es ist nicht so, dass die Jugend bislang besonders links gewählt hätte: 2017 stimmten die 18- bis 24-Jährigen überwiegend für CDU/CSU (24 Prozent) und SPD (19 Prozent), wie beinahe während der gesamten Ära Merkel. Grüne und FDP lagen bei 12 bis 13 Prozent – nun, vier Jahre später, liegen sie mit 23 und 21 Prozent ganz vorne. Bei dem diesjährigen Ergebnis handelt es sich also durchaus um ein bemerkenswertes: Jamaika oder Ampel – aus jugendlicher Perspektive ist jede liberal-grüne Kombination eine „Große Koalition“.

Wie kommt das? Der Journalist Raphael Knipping veröffentlichte seine Analyse bald nach der Wahl auf Twitter. Er war der Ansicht, die sozialen Medien hätten erheblich zum Wahlverhalten der Jungen beigetragen, sie seien stark von einer leistungsorientierten Influencer-Kultur beeinflusst, hätten sich von der Coronapolitik der Regierenden benachteiligt gefühlt und wünschten sich vor allem schnelles Internet sowie legalisiertes Cannabis.

Diese Erklärung trifft jedoch nur auf einen Teil der jugendlichen Wahlwelt zu. Denn knapp ein Drittel der Jungen wählte überhaupt nicht.

Und: Insbesondere die Ansicht, Jugendliche ließen sich naiv von Youtuber*innen beeinflussen, unterstellt schlechte Medienkompetenz. Zwar zeigte zuletzt die PISA-Erhebung von 2018, dass viele Jugendliche Fakten von Meinungen im Netz schwer unterscheiden können. Die Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2019 stellte hingegen fest, dass eine Mehrheit die öffentlich-rechtlichen Sender für vertrauenswürdig hält, während jeder zweite weiß, dass Informationen auf Youtube „weniger bis nicht vertrauenswürdig“ sein können. Das relativiert die These von den „influencten“ Jugendlichen erheblich, auch mit Blick auf quellenintensiv arbeitende Social-Media-Persönlichkeiten wie Rezo.

Bezüglich der Leistungsorientierung von Jugendlichen lieferte die Jugendstudie jedoch Material: Junge Menschen schätzen Deutschland überwiegend als gerechtes Land ein. Und: „Die Jugendlichen sind, wie auch schon in den letzten Shell-Jugendstudien beschrieben, weiterhin bereit, sich in hohem Maße an Leistungsnormen zu orientieren [...]. Sie passen sich auf der individuellen Suche nach einem gesicherten und eigenständigen Platz in der Gesellschaft den Gegebenheiten so an, dass sie Chancen [...] möglichst gut ergreifen können.“ Die österreichische Jugendforscherin Beate Großegger bezeichnete dieses Bewusstsein einmal als „leidenschaftslose Überanpassung“: eine marktkonforme Haltung ohne Begeisterung für das System. Im Vergleich zu anderen westlichen Ländern ist das eine deutsche Besonderheit: In Großbritannien, Frankreich oder den USA wählen die Jugendlichen (wieder) öfter links und lassen sich sogar für den Sozialismus begeistern.

Geht es der Jugend in Deutschland also zu gut für ein linkes Wahlverhalten? Der Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier denkt vielmehr, dass ein großer Teil der Jugendlichen Angst vor der Zukunft hat und sich obendrein von der Politik nicht wahrgenommen fühlt. Dem Bayrischen Rundfunk sagte er im Frühjahr: „Die Öffentlichkeit und der öffentliche Diskurs werden heute von meinungsstarken Mikro-Gruppen dominiert, die gesellschaftliche Mitte und die unteren Sozialschichten werden nicht mehr gehört. Genau das beklagt die Jugend. […] Was wir überhaupt nicht sehen, ist, dass sich die jungen Menschen mehr Konkurrenz, mehr Wettbewerb und mehr Kapitalismus wünschen.“

Wenn sich aus den vorliegenden Daten überhaupt etwas ableiten lässt, dann wohl das: „Die Jugend“ gibt es nicht. Auch diese Generation setzt sich divers zusammen: aus verschiedenen sozialen Milieus, mit und ohne Migrationshintergrund, männlich, weiblich, divers. Aus verschiedenen politischen Interessen eben.

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