Joho, alles für den Plot: Auf Hochsee mit Santiano

Kolumne Unser Kolumnist hat sich in der Waldbühne Seemanns-Rock von „Santiano“ angehört. Was hat ihn bloß dazu bewogen, sich die Hochseebarden aus Schleswig-Holstein reinzuziehen? Ganz freiwillig jedenfalls, war es nicht
Ausgabe 37/2023
Ein Hochseebarde in voller Fahrt, auch ohne Dampfer
Ein Hochseebarde in voller Fahrt, auch ohne Dampfer

Foto: Jens Niering / picture alliance

In der anglo-amerikanischen Jugendsprache gibt es eine schöne Wendung, die mehr und mehr hierzulande Einzug hält: „doing it for the plot“. Gemeint ist, sich selbst als Charakter in einer Geschichte zu begreifen. Wenn jemand etwas „for the plot“, also „für die Handlung“ tut, dann macht er das nicht, weil es das Folgerichtige, Erwartbare wäre, sondern aus Erlebnisdurst. Basilikum-Knoblauch-Eis klingt schlimm? Egal, tu es, um etwas zu erzählen zu haben: „for the plot“.

Vielleicht ist es mit dem „plot“ zu erklären, dass sich der Autor dieser Kolumne vor einigen Wochen in der ausverkauften Berliner Waldbühne wiederfand, umgeben von Publikum, das sein eigenes mittleres Alter im Durchschnitt deutlich übertraf, und bei einer Band, die er sich unter anderen Umständen vielleicht nie angeschaut hätte: Santiano. Seit nunmehr über zehn Jahren zieht die fünfköpfige Männergruppe mit ihrem Seemannslieder-Rock durchs Land. Viermal gewann sie den Echo in der Kategorie „Volkstümliche Musik“, zweimal den Chartpreis einer öffentlich-rechtlichen Volksmusik-Show. Und: Sämtliche fünf Alben, vom 2012er-Debüt Bis ans Ende der Welt bis zum jüngsten Wenn die Kälte kommt, erreichten in Deutschland Platz 1 der Albumcharts.

Der Berliner Kultursenator Joe Chialo hat die Unterhaltungsnachfrage der Deutschen begriffen, als er Santiano einst auf dem von ihm gegründeten Universal-Sublabel Airforce1 Records unter Vertrag nahm. Die Flucht in die Welt, die Santiano mit ihren an irische Folksongs angelehnten Kompositionen zeichnen, sie kommt sehr gut an. Wohl auch, weil das Konzept eine breite Zielgruppe anspricht: Natürlich haben Kinder ihre Freude am harmlosen Seemannsgarn, am lauten „Joho“, am hüpfenden Dreivierteltakt und der Ästhetik aus dem Abenteuerroman. Trotzdem ist nicht ganz klar, was den Kolumnisten nun vorrangig dazu bewogen hat, sich die Hochseebarden aus Schleswig-Holstein reinzuziehen: der Wunsch des Sechsjährigen, der ihn begleitete, oder der Wunsch des Sechzigjährigen, der den Einstelligen mitbrachte? Oder die Idee, dass einmal im Leben ein Santiano-Konzert gesehen zu haben, womöglich gut für den „plot“ sein könnte?

„Freiheit“ war mal ein unbedarfter Begriff für Santiano

Genau wie die zwei Begleiter zeigt sich das höchst gemischte Publikum, vom kopftätowierten Union-Berlin-Fan bis zum kiffenden Hippie, rundum begeistert von der Band. Im Laufe der anderthalbstündigen Show spielen die fünf Mittfünfziger, von denen einer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr auf der Bühne steht, nicht nur Gitarre, Bass und Schlagzeug, sondern natürlich auch Geige, Mandoline und Mundharmonika, untermalt von einer sauber choreografierten Licht- und Videoshow und, na klar, Feuerwerk. Die laue Sommernacht, sie will nicht recht zur hohen See passen, tut aber ihr Übriges.

Die Fans wissen die Hits mitzusingen, tönen schunkelnd „Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren, müssen Männer mit Bärten sein“, inbrünstig „Volle Fahrt Santiano!“ und einiges mehr, dass sich nicht zu sehr, aber doch ähnelt. Selten brechen die Musiker aus der Rolle aus, genehmigen sich eine kurze Umbaupause unter augenzwinkerndem Verweis auf ihr Alter oder betonen einmal, dass ihre Lieder nicht politisch missverstanden werden sollten: „Begrifflichkeiten wie ‚Freiheit‘ und ‚Heimat‘ “, mit denen die Band „unbedarft“ umgegangen sei, würden „immer mehr in so ’nem müffelnden, braunen Licht“ erscheinen. Das bemerkenswerte Statement erntet keinen ekstatischen, aber verdienten Applaus.

Unter Freiheit versteht derweil der Sechsjährige, gehen zu können, wenn er müde ist, und auch das ist freilich verdient. Der Kolumnist zieht vor der Zugabe ab. Das war sie nun, die Reise auf der Santiano in Berlin. Und war sie nicht gut, so insgesamt, als Erlebnis, als Erinnerung – gar nicht so sehr nur „für den Plot“?

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