Kälte-Pop: Kühle Einblicke in die Neue Deutsche Welle

Kolumne Alles so schön kalt hier. Wieso die Neue Deutsche Welle mehr mit Eiszeit, Winter und bitterer Kälte zu tun hat, als gemeinhin gedacht
Ausgabe 03/2024
Frostig geht es zu im Pop
Frostig geht es zu im Pop

Foto: Imagp/Brigani-Art

Musiktagebuch

Konstantin Nowotny schreibt beim Freitag die Musikkolumne. Darüber hinaus schreibt er öfter über Themen rund um die Psyche und hin und wieder über Ostdeutschland

„Verdammt, noch so ein Winter und ich schwör’, ich wander’ aus“ – jedes Jahr aufs Neue ploppt diese Zeile, gesungen vom Kraftklub-Sänger Felix Kummer in einem Song des Rappers Casper, in meinem Kopf wieder auf. Ja, sich in der beheizten Wohnung über winterliche Kälte und Dunkelheit in der Großstadt zu beschweren, ist Jammern auf hochindustriellem Niveau, aber meine Güte: Wenn doch sonst schon alles grau und eiskalt ist, muss es denn auch noch die Luft sein?

„Im Labyrinth der Eiszeit – minus 90 Grad“ – hatte Annette Humpe mit ihrer Westberliner Band Ideal so bereits 1980 über die saisonale Kälte geklagt? Wohl eher nur am Rande, denn: Ideal und andere Bands der sogenannten Neuen Deutschen Welle hatten weit mehr als Temperaturen im Sinn, wenn sie Songtexte und Sounds über Kälte, Härte und Dunkelheit entwarfen.

Nachlesen kann man es so in dem knapp 600 Seiten starken Band Kälte-Pop des Historikers Florian Völker, der sich in seiner materialstarken Recherche der „Geschichte des erfolgreichsten deutschen Popmusik-Exports“ widmet. Geschrieben als Doktorarbeit im Jahr 2022, erschien seine Untersuchung vergangenes Jahr dann auch als wissenschaftliches Sachbuch.

Dass die Ästhetik von Bands wie Kraftwerk, Einstürzende Neubauten, Grauzone, DAF oder eben Ideal weit mehr war als ein kurzweiliger Trend, weiß der Autor überzeugend und unterhaltsam zu belegen: Neben anglo-amerikanischen Einflüssen waren es unter anderem die Randbedingungen des geteilten Deutschlands, des Kalten Krieges, eine Rebellion gegenüber der als naiv und „warm“ empfundenen 68er-Bewegung und die kapitalistische soziale Kälte, welche eine Generation von Künstler*innen und Musiker*innen sehr bewusst zu den entsprechenden Metaphern trieb. So zitiert der Autor die eingangs erwähnte Annette Humpe: „Bloß nicht zu weich oder vertrauensvoll. Bloß nicht zu freundlich. Das wurde als Schwäche ausgelegt (…). Andererseits fand ich, dass gerade diese Kälte in der Musik und auch im gegenseitigen Sozialverhalten den wahren Verhältnissen entsprach.“

Völkers Analyse hält Kapitel für Kapitel einige überraschende Anekdoten und kontraintuitive Wahrheiten über den deutsch(sprachig)en „Kälte-Pop“ bereit. Etwa die, dass die als NDW zum Teil international erfolgreich vermarkteten Bands und Künstler*innen wie Nena, Hubert Kah oder Extrabreit gar nicht so sehr in dem avantgardistischen Raum verankert waren, der das Neue an der Neuen Deutschen Welle hervorbrachte, sondern vielmehr als „szeneexterne Wellenreiter“ (Chapeau!) gelten müssten. Oder dass der erste Berliner Club, vor dem es Türsteher gab, wohl gar kein Technoclub war, sondern vielmehr der 1978 gegründete Westberliner Tanzclub Dschungel, den auch Ideal in ihrem Song Berlin besingen.

Neue Neue Kälte-Pop-Welle

Zudem hätte dieses Buch kaum zu einem besseren Zeitpunkt erscheinen können, erlebt doch genau dieser Sound der späten 70er und frühen 80er Jahre gerade ein nennenswertes Revival als etwas uninspiriert benannte Neue Neue Deutsche Welle. Künstler wie der 26-jährige Edwin Rosen oder diggidaniel kolportieren einen überdeutlich an die 80er Jahre angelehnten Sound, der unterdessen mittelgroße Veranstaltungshäuser ausverkauft. Der Einfluss der deutschpoppigen Kältewelle reicht weit über ihre Geburtsstunde hinaus, auch das weiß Autor Florian Völker, der noch im modernen Industrial-Sound und im Black Metal harte und kalte Anleihen der Bewegung nachzeichnet.

Frostig ist es schon und kalt wird’s bleiben, gerade wenn sich das Wetter bessert, das Klima aber nicht. Zum Glück sieden oder gefrieren Töne nicht, egal ob cool oder uncool. Sonst bliebe hier ja wirklich nur das Auswandern.

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