Sozialer Zusammenhalt ist nicht zu erzwingen

Erfahrung Kein Mensch braucht eine Wehrpflicht. Ein fair bezahltes, freiwilliges Gesellschaftsjahr hingegen würde jungen Menschen zeigen, dass Engagement etwas wert ist
Unser Autor hat neun Monate Zivildienst im Krankenhaus geleistet, weil er es so wollte
Unser Autor hat neun Monate Zivildienst im Krankenhaus geleistet, weil er es so wollte

Foto: imago/Sven Simon

"Sie sind berechtigt, den Kriegsdienst an der Waffe zu verweigern. Dieser Bescheid ist unanfechtbar." So der Wortlaut des Schreibens, das mir vor neun Jahren eine Episode zwischen Feldbett und Sturmgewehr ersparte, und mich stattdessen als einer der letzten Zivildienstleistenden neun Monate auf eine Krankenhausstation führen sollte. Das war, wohlgemerkt, gewollt.

Die Wehrpflicht war eine Illusion. In meinem Jahrgang war fast jeder Zweite "wehruntauglich". Es gab zahlreiche Wege, die Behörden auf einfachste Weise auszutricksen, um – anders als ich – keine Tauglichkeit, sondern die Ausmusterung zu erzielen. Es lässt sich also davon ausgehen, dass die knapp 90.000 Zivildienstleistenden in meinem Jahrgang den Dienst überwiegend freiwillig antraten.

Wenn nun ein verpflichtendes „Gesellschaftsjahr“ diskutiert wird, lautet das Argument: Ohne Zwang würde es ja niemand tun. Wie sehr das die grundsätzliche Bereitschaft für soziales Engagement von jungen Erwachsenen unterschätzt, weiß jeder, der einen solchen Dienst gemacht hat, als er noch "verpflichtend" war.

Für viele orientierungslose Schulabgänger klang die Idee, neun Monate lang etwas Gutes zu tun, durchaus attraktiv. Einige hatten ohnehin genug vom Lernen und wollten nicht direkt an die Uni. Zumindest für diejenigen, die noch zu Hause wohnten, war der Sold auch kein schlechtes erstes Geld. Je nach Stufe und Zuschlägen gab es zwischen 500 und 700 Euro im Monat.

„Freiwillig“ bedeutet Vollzeitarbeit unterhalb des Existenzminimums

Wenn unsere Klassenkameradinnen aus ähnlichen Motiven einen sozialen Dienst antreten wollten, mussten sie sich mit dem lächerlichen Taschengeld des Freiwilligen Sozialen Jahres, das zwischen 150 und 300 Euro lag, zufriedengeben. Oft machten sie dafür dieselbe Arbeit. Der als Zivi-Ersatz erdachte Bundesfreiwilligendienst wird aktuell mit maximal 390 Euro monatlich ähnlich schäbig entlohnt. „Freiwillig“ bedeutet hierzulande nach wie vor, unterhalb des Existenzminimums voll zu arbeiten. Vielleicht bricht auch deswegen jeder dritte „Bufdi“ ab.

Langfristig taugte aber auch der Zivi-Sold nicht als Anreiz. So viel Plackerei für so wenig Geld? Dann doch lieber irgendetwas studieren. Sowohl für mich als auch für viele meiner Zivi-Kollegen war die Arbeit knallharter Vollkontakt mit einer Realität, die einem in der Schule nicht vermittelt wurde. Das betraf nicht nur die 40-Stunden-Woche im Vierschichtsystem inklusive Wochenenddienst und kurzen Wechseln. Ein soziales Bewusstsein schafften vor allem die nivellierenden Erfahrungen rund um all das Leid, dass sonst weit außerhalb des Erfahrungsraums vieler Abiturienten existiert. Vor der Bettpfanne sind alle gleich, vom querschnittsgelähmten Manager bis zum vernarbten Drogenabhängigen.

Es braucht eine Pflege-Reservearmee

Wenn meine wehrdienstleistenden Freunde erzählten, sie hätten auf ihrer Stube, zusammengepfercht mit Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft, ähnlich klassenbewusste Erfahrungen gemacht, konnte ich das nur halb nachvollziehen. Dass man ob des jahrzehntelang ausgedünnten Personals als junge Arbeitskraft ernsthaft gebraucht werden könnte, war im Krankenhaus auch ohne Drohung mit einem abseitigen Verteidigungsfall spürbar. Wenngleich er sicher prägend und herausfordernd war, schien mir Wehrdienst vor diesem Hintergrund wie künstlich verordnetes Elend. Der Pflegekrieg war akut – und Zivis oft deutlich näher am Sterben als die fleckgetarnten Gleichaltrigen.

Dieser reale Notstand hat sich noch verschärft, weswegen es weniger denn je eine allgemeine Wehrpflicht, sondern vielmehr eine Pflege-Reservearmee braucht. Ein Gesellschaftsjahr könnte ein Bewusstsein für diese Notwendigkeit schaffen. Das wird aber nur einen langfristigen Effekt haben, wenn ein solcher Dienst freiwillig bleibt und zeigt, dass der Gesellschaft diese Arbeit etwas wert ist.

Durch Zwang werden junge Menschen den Dienst an der Gesellschaft wie eine Nötigung wahrnehmen, die Misere eines kaputtgesparten Sozialsystems, die sie nicht verursacht haben, ausbaden zu müssen. Und wenn der Grundsatz der "Freiwilligkeit" rechtfertigt, dass volle Arbeit weniger wert ist als der Regelsatz des Arbeitslosengeld II, wird das auch dem motiviertesten Schulabgänger sein soziales Engagement völlig zurecht austreiben.

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