Ohne Fernsehen keine 68er

TV Wie aus einer Jahreszahl eine Generation wurde, zeichnet eine Studie von Martin Stallmann nach
Ausgabe 39/2017

Ein Jubiläum steht an, eine Jahreszahl feiert 50. Geburtstag. Doch eine runde Sache ist es nicht, denn an dieser Chiffre scheiden sich die Geister: 1968 – Epoche und Zäsur in einem. Unabhängig von der politischen Interpretation werden die 68er üblicherweise als eine Generation begriffen. Aber wie kam es zu dem Etikett „68er-Generation“? Martin Stallmanns Studie liefert eine Antwort, indem er die Medien unter die Lupe nimmt. Seine Arbeit wurde als Dissertation verfasst, sie fällt insofern im Ton wissenschaftlich aus. Wir lesen kein populäres Sachbuch. Faktenreich führt die Lektüre vor, wie unser Bild von den 68ern wesentlich durch Fernsehberichte geprägt worden ist.

Der Begriff der 68er konstituierte sich Ende der 1970er Jahre. Während in den 1970er Jahren noch die Vorgeschichte zu 68 thematisiert wurde und Erzählroutinen im TV sich erst etablieren mussten, rückte nun verstärkt das Jahr selbst ins Zentrum – 68 als Ereignischiffre. Insofern spricht Stallmann von der „Erfindung von ‚1968‘“. Die 68er-Generation bildet eine narrated community, also etwas, das sich über Erzählungen konstituiert – sei es im Feld der Medien oder als Legendenbildung ihrer Akteure, die sich ihre Geschichten erzählen. Mit manchem Mythos über die 68er räumt das Buch auf. So beruhte der Wandel beim Umgang mit der NS-Zeit keineswegs auf dem Protest der Studenten, sondern wesentlich für den öffentlich geführten Diskurs waren die bereits vorher stattfindenden NS-Prozesse zwischen 1958 und 1965, ebenso die Bundestagsdebatten um die Verjährung von Mord Anfang der 1960er Jahre. Die Medien berichteten darüber intensiv. Dass die 68er wesentlich diese Debatte bewegten, erweist sich als Projektion der späten 1970er Jahre.

Ähnliches gilt für den angeblichen Generationenkonflikt von Vätern und Söhnen. Die meisten Studenten kamen aus linksliberalen Elternhäusern. Ebenfalls interessant zu lesen, dass im Herbst 1967 der linke SDS nur unwesentlich mehr Mitglieder besaß als der konservative RCDS. Das Verhältnis betrug 2.500 zu 2.300. Allerdings waren jene rebellischen Studenten mittels ihrer Protestformen medial deutlich präsenter. So gelang es dem SDS sehr viel erfolgreicher, neue Anhänger zu mobilisieren.

Stallmann liefert einen Abriss, wie und unter welchen zeithistorischen Prämissen Fernsehen Geschichte aufbereitet. War das Fernsehen bis in die 1980er Jahre hinein auf Wissenserwerb geeicht, so änderte sich dies spätestens mit den frühen 1990ern. Infotainment trat in den Vordergrund, an die Stelle des Erklär-TVs rückte das Erzählfernsehen. Stallmann führt anhand verschiedener TV-Dokumentationen vor, wie sich im Wandel der Zeit die Darstellungen verschieben. Debattierte man 1977/78 noch den Zusammenhang von Protest und Terror, so galt 20 Jahre später ein anderer Blick: Der „lange Marsch durch die Institutionen“ endete 1998 mit der rot-grünen Koalition als Integration ins System. Interessant zu lesen, wie solche Details von den Medien unterschiedlich aufbereitet werden und sich immer wieder neue Narrative und Perspektiven auf jene wilden Jahre etablierten. Die Mediengeschichte der 1968er-Erfindung ist lange nicht zu Ende geschrieben.

Anhand solcher Beispiele führt Stallmann zu den „Umgründungsnarrativen“ der Medien, weist auf erzählerische Darstellungsformen, die überhaupt erst einen Begriff und den Mythos eines Ereignisses konstituieren. Insofern ist die Studie zugleich ein Lehrstück in Erzähl- und Medientheorie. Gespickt mit Fußnoten und manchmal etwas spröde zu lesen, aber das tut der Lektüre keinen Abbruch. Dutschkes Texte sind sperriger.

Info

Die Erfindung von „1968“. Der studentische Protest im bundesdeutschen Fernsehen 1977-1998 Martin Stallmann Wallstein Verlag 2017, 412 S., 39,90 €

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Geschrieben von

Lars Hartmann

Grenzgänge zwischen Philosophie und Kunst

Lars Hartmann

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