„Staatsoper für alle“: Wenn der Star-Tenor an der Bar „Una Birraaaa“ schmettert

Kunstkolumne „Rave The Planet“ und „Staatsoper für alle“ an einem Samstag: Wie toll, wie vielfältig, das sei Berlin, sagt Bürgermeister Kai Wegner, der beide besuchte. Und unsere Kolumnistin?
Ausgabe 28/2023
Besucher*innen der Berliner „Staatsoper für alle“
Besucher*innen der Berliner „Staatsoper für alle“

Foto: picture alliance/ PIC ONE/Ben Kriemann

Schon auf dem Weg zur Staatsoper Unter den Linden sah man die Opfer. Bäuchlings lag eines mit dem Gesicht im Gras und den nackten Füßen auf dem Gehweg. Handy und Portemonnaie neben seinem Kopf. Es war endlich wieder Rave-Zeit in Berlin. Und von der Bühne auf dem Bebelplatz dröhnte Kai Wegners (Berliner Bürgermeister) Stimme, der bekannte, er wäre eben auch schon auf dem Rave The Planet gewesen. Wie toll, wie vielfältig, das sei Berlin. Und jetzt spricht Wegner eben auf der Bühne der Staatsoper für alle, die BMW hier einmal im Jahr aufstellen lässt, damit sich Klassikfans davor niederlassen können, um in Campingstuhl oder auf Picknickdecke die Aufführung aus dem Inneren unter freiem Himmel und umsonst zu genießen.

Hochkultur sei die neue Subkultur. Hat Wolfgang M. Schmitt recht?

Aber die Hochkultur sei ja die neue Subkultur, sagte kürzlich der große Intellektuelle Wolfgang M. Schmitt, und so nahm man also an einem Samstagabend die Einladung des Autobauers dankend an, sich über drei Stunden Guiseppe Verdis Don Carlo zu Gemüte zu führen, im Innern der Oper mit Champagner und Rindertartar in kleinen Eiswaffeln. Doch zumindest was diesen Abend betrifft, kann man Schmitt nicht ganz zustimmen, subkulturelle Vibes kamen hier eher nicht rüber, waren doch einige Influencerinnen eingeladen worden, die fleißig Content produzierten und dafür etwa so taten, als hätten sie Spaß oder als würden sie ihren Partner wirklich lieben. Doch wann immer die Handybildschirme sanken, taten das auch ihre Mundwinkel. Und so konnte man schon den ersten dramatischen Szenen des Lebens beiwohnen, bevor der Vorhang hochgefahren wurde.

Auch auf dem roten Teppich: Dort stand vor den Fotografen eine junge Frau in silbernem Kleid, die mal an einer menschenfeindlichen Fernsehschau teilnahm und dafür ein bisschen Berühmtheit geschenkt bekam, ihren Freund im Arm, posierte sie, bis er plötzlich nicht wusste, wohin mit der Hand und sie unsicher auf ihrem Bauch ablegte und die sie natürlich sofort wegstieß, weil sie sich sehr wohl im Klaren darüber war, dass schon eine kleine Geste die ganz großen Freuden ankündigen kann. Verlegen lachte das Paar. Kleines Missgeschick, natürlich nicht schwanger.

Und um die kleinen Gesten ging es dann eben auch auf der Bühne, wo der Infant von Spanien um seine geliebte Elisabeth trauerte, die er für den Frieden an seinen Vater opfern musste, wo Freundschaft wie Rache geschworen wurde, wo Ketzer mit Benzin übergossen wurden.

Und dann war da dieser sehr hohe Ton, der Irritationen auslöste

Die Inszenierung von Philipp Himmelmann sei ja ein bisschen unspektakulär, unkte es in der Halbzeitpause. Doch sowohl im Spiel der Sängerinnen und Sänger als auch im Bühnenbild von Johannes Leiacker zeigte sich die große Wirksamkeit von kleinen Gesten in der Kunst. Ein weggeworfenes Laken mit Blut, ein runtergelassener Hosenträger, eine weibliche Silhouette vor einem Lichthintergrund, der sich mal vergrößerte und mal verkleinerte. Alle Szenen spielten um einen Tisch, Stühle änderten ihre Position und damit ihre Aussagen.

Und noch eine Kleinigkeit erreichte große Wirkung an diesem Abend. Ein sehr hoher Ton, der immer wieder zu hören war, der zunächst wie ein Feuermelder, dann wie ein Glöckchen klang, aber nie ganz zu fassen war, weil viel zu weit oben im Tonspektrum angesiedelt, löste immer wieder Irritation aus. Was ist das? War nicht zu klären. Aber so lernte man an diesem wunderbaren Abend in der Staatsoper Unter den Linden, der damit ausklang, dass der Star-Tenor ein Getränk an der Bar singend bestellte („Una Birraaaaaa“), dass die kleinen Gesten so viel gehaltvoller sind in der Kunst, man sie aber gar nicht wahrnehmen kann, wenn zu viele Boxen schallen oder man mit dem Gesicht im Gras liegt.

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