Donnerstags geht mein Sohn auf eigenen Wunsch in den katholischen Religionsunterricht. Dass wir Juden sind, weiß er, es ist aber ein Wissen, dem jede Lebendigkeit fehlt. An Chanukka zünden wir Kerzen an, wie Juden das so machen. Mein Sohn fragt dann, ob das „komische Gebet“ noch lange dauert. Von der Ermordung der sechs Millionen habe ich ihm auch mal erzählt, als wir ein Mahnmal passierten. Daraufhin schimpfte mich sein Vater, das Kind solle nicht lernen, sein Judentum vor allem mit Opferdasein zu verbinden. Kurz, solche Juden sind wir: die einmal im Jahr Kerzen zünden und die sich entheben wollen aus diesem Gefühlsschlamassel aus Ängsten und Traumata und der Selbstidentifikation als Nachfahren der Opfer.
Eines Morgens ruft die Schule an und sagt, dem Kind wurde bei einer Prügelei ein Zahn ausgeschlagen. Mein Sohn liebt Pferde, er mag rosa Nachthemden, er will lieber „Freunde“ statt „kämpfen“. Während ich zur Schule fahre und mich frage, wie um Gottes willen er in eine Prügelei geraten ist, taucht ganz plötzlich dieser Gedanke auf. Was, wenn ... und mir fallen all die Geschichten ein, die man in den vergangenen Wochen und Monaten gelesen hat: die von aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum gemobbten Schülern, von der Lehrerin, die berichtet, dass ihre muslimischen Schüler Hitler verehren und Juden den Tod wünschen, Statistiken von gestiegenen Anzeigen antisemitisch motivierter Straftaten, und dass ich gelesen habe, dass immer mehr jüdische Eltern sich bei Beratungsstellen einfinden, weil ihre Kinder sich nicht in die Schule trauen. All das denke ich, und dann wische ich die Gedanken beiseite und rufe schon mal bei unserem Zahnarzt an, um zu sagen, dass ich bald mit dem Kind und dessen halbem Zahn vorbeikommen werde.
Fakt ist, viele der aus muslimisch geprägten Ländern Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren zu uns gekommen sind, bringen nicht nur ein schreckliches Kriegsschicksal mit, sondern auch ein Weltbild, das sich an vielen Stellen von dem hierzulande gelebten unterscheidet. Die Rolle der Religion, die Rolle der Frau, das Bild, das man vom Anderen hat, und in diesem Fall von den Juden.
Nie, nie wieder, so sind wir aufgewachsen, und als wir das im Geschichtsunterricht schon nicht mehr hören wollten, da haben sie es uns in Deutsch mit Andorra noch mal erklärt. Die Geflüchteten aber sind von anderen Traditionen, Narrativen und Bildern geprägt. Den Hass auf die Juden, den innigsten Wunsch, Israel im buchstäblichen Sinne auszulöschen, haben sie mit der Muttermilch aufgesogen. Das sind die Fakten, aber das ist – und das lässt sich nicht oft genug wiederholen – noch kein Grund für nichts. Erst recht nicht dafür, Menschen im Stich zu lassen, ihnen unsere Hilfe zu verweigern, unseren Wohlstand und unsere Demokratie nicht zu teilen. Es ist höchstens ein Grund, etwas zu tun.
Mein Sohn hat beim Zahnarzt geschrien, er mag Zahnärzte nicht. Später erzählte er, er habe den „braunen“ Jungen zurückhalten wollen, der einen anderen Jungen schlagen wollte, er wurde dabei geschubst und ist unglücklich gefallen. Das passiert, das sind Kinder. Mit seinem Judentum hatte das nichts zu tun, und später, als er mir das so erzählte, schämte ich für meine Gedanken, für diese von mir jahrelang verurteilte Antisemitismus-Angst. Mein Sohn wollte nach dem Zahnarzt in die Schule zurück, weil es ein Donnerstag war und donnerstags sein Lieblingsfach ist, katholische Religion.
Kommentare 4
“haben sie mit der Muttermilch aufgesogen“ Das ist aber nicht nur so, wenn es um Antisemitismus geht! Das fängt wie sie richtig sagen, in der Familie an – kann sich aber auf alle “ Sündenböcke “ beziehen. Richtig ist, wenn am Frühstückstisch schon die ersten Türken, Juden oder Kommunistenwitze erzählt werden und der schwule Nachbar durch den “Kalkau gezogen“ wird, dann denken die Kinder - sie müssten die Mission ihrer Eltern erfüllen. Das hat was mit Werten zu tun, die werden aber leider Zeitgemäß auch passen gemacht und nicht nur in der Familie! Leider!
„Unsere zivilisierte Welt ist nur eine große Maskerade“ Kurt Tucholsky
Der Meyer ist nett, aber katholisch. In Ostfriesland war das einmal ein sehr ungünstiges Etikett. Der Meyer ist nett, aber evangelisch. Das war einmal ein sehr ungünstiges Etikett in Bayern. Das hat aufgehört, es spielt keine Rolle mehr, man merkt es daran, dass es nicht mehr mit einem "aber" an den Namen angehängt wird.
Bei Afrikanern, Nordafrikanern, Asiaten usw wird oft die ethnische Zugehörigkeit zum Namen dazu gesetzt. Nicht mit einem "aber", ohne jegliche böse Absicht, jedoch ist die Abgrenzung da.
Mit der jüdischen Religionszugehörigkeit ist es ähnlich. In Gesprächen wird es erwähnt, wenn jemand jüdisch ist. Achtet mal darauf, wie oft das vorkommt. Innerhalb der christlichen Religion hat es Jahrhunderte gedauert, bis die konfessionellen Unterschiede keine Bedeutung mehr hatten.
Ich bin oft in Israel, Jordanien und Marokko gewesen. Da war ich es, die das Etikett "die Deutsche, die Protestantin " bekam. Wir sind noch lange keine Weltgemeinschaft, aber auf dem besten Wege dahin, auch wenn es manchmal nicht so aussieht.
"Mein Sohn wollte nach dem Zahnarzt in die Schule zurück, weil es ein Donnerstag war und donnerstags sein Lieblingsfach ist, katholische Religion."
Kinder gibt's ...
Mein Sohn hat beim Zahnarzt geschrien, er mag Zahnärzte nicht.
Ich besuche auch lieber Freunde.