Geht es um Mobbing?

Die Kosmopolitin Nie war die jüdische Herkunft ihres Sohnes in der Schule ein Problem. Bis ein Anruf bei unserer Kolumnistin Ängste auslöst
Ausgabe 44/2018
Der Sohn unserer Kolumnistin mag keine Zahnärzte. Wen gruselt es bei diesem Anblick nicht?
Der Sohn unserer Kolumnistin mag keine Zahnärzte. Wen gruselt es bei diesem Anblick nicht?

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Donnerstags geht mein Sohn auf eigenen Wunsch in den katholischen Religionsunterricht. Dass wir Juden sind, weiß er, es ist aber ein Wissen, dem jede Lebendigkeit fehlt. An Chanukka zünden wir Kerzen an, wie Juden das so machen. Mein Sohn fragt dann, ob das „komische Gebet“ noch lange dauert. Von der Ermordung der sechs Millionen habe ich ihm auch mal erzählt, als wir ein Mahnmal passierten. Daraufhin schimpfte mich sein Vater, das Kind solle nicht lernen, sein Judentum vor allem mit Opferdasein zu verbinden. Kurz, solche Juden sind wir: die einmal im Jahr Kerzen zünden und die sich entheben wollen aus diesem Gefühlsschlamassel aus Ängsten und Traumata und der Selbstidentifikation als Nachfahren der Opfer.

Eines Morgens ruft die Schule an und sagt, dem Kind wurde bei einer Prügelei ein Zahn ausgeschlagen. Mein Sohn liebt Pferde, er mag rosa Nachthemden, er will lieber „Freunde“ statt „kämpfen“. Während ich zur Schule fahre und mich frage, wie um Gottes willen er in eine Prügelei geraten ist, taucht ganz plötzlich dieser Gedanke auf. Was, wenn ... und mir fallen all die Geschichten ein, die man in den vergangenen Wochen und Monaten gelesen hat: die von aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum gemobbten Schülern, von der Lehrerin, die berichtet, dass ihre muslimischen Schüler Hitler verehren und Juden den Tod wünschen, Statistiken von gestiegenen Anzeigen antisemitisch motivierter Straftaten, und dass ich gelesen habe, dass immer mehr jüdische Eltern sich bei Beratungsstellen einfinden, weil ihre Kinder sich nicht in die Schule trauen. All das denke ich, und dann wische ich die Gedanken beiseite und rufe schon mal bei unserem Zahnarzt an, um zu sagen, dass ich bald mit dem Kind und dessen halbem Zahn vorbeikommen werde.

Fakt ist, viele der aus muslimisch geprägten Ländern Geflüchteten, die in den vergangenen Jahren zu uns gekommen sind, bringen nicht nur ein schreckliches Kriegsschicksal mit, sondern auch ein Weltbild, das sich an vielen Stellen von dem hierzulande gelebten unterscheidet. Die Rolle der Religion, die Rolle der Frau, das Bild, das man vom Anderen hat, und in diesem Fall von den Juden.

Nie, nie wieder, so sind wir aufgewachsen, und als wir das im Geschichtsunterricht schon nicht mehr hören wollten, da haben sie es uns in Deutsch mit Andorra noch mal erklärt. Die Geflüchteten aber sind von anderen Traditionen, Narrativen und Bildern geprägt. Den Hass auf die Juden, den innigsten Wunsch, Israel im buchstäblichen Sinne auszulöschen, haben sie mit der Muttermilch aufgesogen. Das sind die Fakten, aber das ist – und das lässt sich nicht oft genug wiederholen – noch kein Grund für nichts. Erst recht nicht dafür, Menschen im Stich zu lassen, ihnen unsere Hilfe zu verweigern, unseren Wohlstand und unsere Demokratie nicht zu teilen. Es ist höchstens ein Grund, etwas zu tun.

Mein Sohn hat beim Zahnarzt geschrien, er mag Zahnärzte nicht. Später erzählte er, er habe den „braunen“ Jungen zurückhalten wollen, der einen anderen Jungen schlagen wollte, er wurde dabei geschubst und ist unglücklich gefallen. Das passiert, das sind Kinder. Mit seinem Judentum hatte das nichts zu tun, und später, als er mir das so erzählte, schämte ich für meine Gedanken, für diese von mir jahrelang verurteilte Antisemitismus-Angst. Mein Sohn wollte nach dem Zahnarzt in die Schule zurück, weil es ein Donnerstag war und donnerstags sein Lieblingsfach ist, katholische Religion.

Die deutsch-russische Autorin Lena Gorelik schreibt als Die Kosmopolitin über interkulturelle Begebenheiten für den Freitag

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