Man kann sich kaum noch vorstellen, wie buntscheckig belebt der Weltraum war, bevor die Menschheit ihm mit technologischer Erkenntniswut dermaßen zu Leibe rückte, dass nur noch biblisches Tohuwabohu übrig blieb, wüste Leere. In dieser trostlosen Welt, in der die Menschen statt nach oben zu den Sternen nach unten auf die Bildschirme blicken, um sich zu spiegeln, lebt auch Emma Erdling, die Protagonistin von Emma Braslavskys neuem Roman Erdling. Gerade als ihre Karriere als linke Privatdetektivin auf Social Media in einem Shitstorm Schiffbruch erleidet, muss sie einen echten Fall annehmen: Oskar Lafontaine taucht auf und setzt die geschlechtsambivalente Protagonistin mit dem Pseudonym Andreas von Erdling auf seine Frau Sahra Wagenknecht an, denn die wurde entführt, u
ührt, und zwar, ganz genau, von Außerirdischen.Braslavsky, 1971 in Erfurt geboren, teilt mit ihrer Protagonistin nicht nur den Vornamen, sondern auch den biografischen Eckpunkt, kurz vor dem Mauerfall aus der DDR in die BRD geflüchtet zu sein. Sie jagt Erdling durchs „Quantenuniversum“, in dem das „Volk ohne Raum“ zu einem „Volk ohne Weltraum“ und damit auch zu einem „Volk ohne Erzählraum“ wird. Allmählich wird Erdling hineingezogen in eine Reise durch Zeit und Raum, in die Vergangenheit, aber vor allem in die deutsche Geistesgeschichte, und zwar in deren der Sonne abgewandte Seite. Denn sind die Mauern der Vernunft einmal gefallen, werden Reisen und Erzählen dasselbe.Nur Thomas Mann behält die Unterhose anAngestachelt von Voltaire, der den Deutschen Weltraumlosigkeit vor lauter Hegelei vorwirft, treibt Erdling durchs Erzählweltall – in dem Monde zerbröckeln, aus Ziegen Jünglinge werden und nur Thomas Mann die Unterhose anbehält. Begleitet wird sie von ihrer unvermittelt auftauchenden Liebhaberin Angelika, die zwar informiert ist wie eine Reiseleiterin, in entscheidenden Momenten aber mit den Schultern zuckt. Die Reisen führen meist in die Zeit zwischen etwa 1890 und 1933, Hochzeit der von rasender Modernisierung und neuen Substanzen angetriebenen produktiven Spinnerei.Nicht zufällig mutet der Roman streckenweise wie ein Lektüreprotokoll der Autorin an: Durch jede Menge längst vergessener Romane und Erzählungen vom Leben und Reisen im Weltall hat sie sich gearbeitet – und da muss, analog, auch ihre Protagonistin durch. Der Leser begegnet so von Kurd Laßwitz über Marc Henry bis Erik Hanussen jeder Menge illustrer und vergessener Autoren, die alle am Ringen um die „deutsche Seele“ beteiligt sind. Dieses Ringen zwischen den Polen „Kultur, Seele, Freiheit, Kunst“ und „Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Literatur“ (Thomas Mann), über dessen Ausgang sich die Protagonistin gemäß den Regeln des Quantenuniversums die Lippen zusammenkneifen muss, war viel verrückter und offener, als es im Rückblick erscheint.Als weiterer Begleiter etabliert sich dabei der Schriftseller Hanns Heinz Ewers (1871 – 1941), wobei man miterleben muss, wie „der einstige krachbunte und schreiende Vogel“ unter dem Einfluss von Deutschtümelei und anderen Drogen „zum fliegenden schwarzen Insektenautomaten mutiert“. Dass all das etwas konstruiert anmutet, stört nicht, denn logisch motiviert muss nichts sein in einer Welt, in der der nächste Eismond hinter einer Putzkammertür wartet und man bei Geldmangel einfach immer wieder an den Moment der Auftragsvergabe reisen kann, um von Oskar einen neuen „adipösen Umschlag“ zu kassieren.Emma Braslavsky deckt in „Erdling“ Verschüttetes aufBraslavskys Roman deckt Verschüttetes auf und macht die Offenheit der Geschichte unter quantenmechanischen Vorzeichen zum erzählerischen Prinzip. Vor allem aber ist er ein großer Lesespaß. Das liegt nicht zuletzt an ihrem geschickten Spiel mit unterschiedlichen Sprachregistern: Da folgt auf die verstiegenste metaphysische Fantasterei ein knallheutiges „OMG“ der Protagonistin. Kurzum: So komisch und schonungslos hat lange niemand mehr in das geblickt, was mal Karriere als „deutsche Seele“ machen wollte.Und wer könnte für diese Weltraumzeitreise geeigneter sein als Sahra Wagenknecht, jene linksrechte, ostwestdeutsche Projektionsfläche, in der die einen die Rettung, die anderen den Untergang Deutschlands sehen (und viele ein lagerübergreifendes Sexsymbol). Als ideelle Gesamtdeutsche muss sie hier herhalten, als Fixpunkt am Nachthimmel, der der Erzählung Orientierung gibt, von dieser ansonsten aber weitgehend unbehelligt bleibt.Emma Braslavskys Mut zum Fabulieren, zur Sprengung des Denkbaren knallt dabei wie ein Meteorit in die so realismusverliebte deutsche Gegenwartsliteratur. Und so wie das Leben auf diesem Planeten ja vielleicht doch durch einen Meteoriten gebracht wurde, will man hoffen, dass auch dieser Himmelskunstkörper noch weitere Früchte trägt.Placeholder infobox-1