Wien ist eine Stadt, die immer noch so aussieht, als sei Franz Joseph nur mal kurz für kleine Kaiser gegangen. Doch die nach Weltgeltung schreienden Fassaden stehen in starkem Kontrast zur tatsächlichen Relevanz dieses Ortes, der 1918 dazu verdammt wurde, Provinz zu sein. Aber lassen wir den Spott, schließlich herrscht schönstes Spätsommer-Kaiserwetter auf der Terrasse des Café Prückel. Mit seiner Einrichtung aus den 1960ern gehört es zweifelsohne zu den schönsten Kaffeehäusern Wiens. Wir lassen Hitlers Lieblingsgericht – Eiernockerln mit grünem Salat – links liegen, stattdessen gibt es Faschierte Laibchen, was nichts mit Faschismus zu tun, sondern die österreichische Variante der Bulette ist. Am Abend gibt es im Pr
Auftakt der Theatersaison in Wien: Schnell auf die Bim gehüpft
Schauspiel Das Burgtheater startet solide in die Saison, aber ringt mit einem Skandal, am Volkstheater lockt die keckste Premiere und zwischendurch: ganz viel Wiener Küche. Ein Besuch zum Beginn der neuen Spielzeit

Auch nicht aus Wien wegzudenken: Die Würstelbude. Eine steht zur Freude des Kritikers direkt vorm Volkstheater
Foto: Leander F. Badura
ückel einen Vortrag über die k. u. k. Kriegsmarine, aber für den bleibt leider keine Zeit – das Burgtheater ruft. Also schnell auf die Bim gehüpft, um zum – wenn es nach den Wienern geht – wichtigsten deutschsprachigen Theater zu fahren.Das Verhältnis der Wiener zu diesem kulturellen Mutterschiff ist ambivalent. „Die Burg“ soll eine Bühne mit Weltgeltung sein und gleichzeitig möglichst österreichisch, und so changiert das Haus stets zwischen Avantgarde und Wiener Bürgertum. Zugleich muss man mit der permanenten Kränkung zurechtkommen, dass für diesen Glanz gar nicht so viele Österreicher verantwortlich zeichnen – sondern jede Menge Deutsche. Umso stolzer ist man dafür auf jene Schauspieler, die aus Österreich kommen, am Burgtheater zu Stars wurden – und blieben.Das allzu milde Urteil gegen Florian TeichtmeisterWie Florian Teichtmeister, bis vor Kurzem eins der Aushängeschilder der Burg. Die Nachricht, dass gegen ihn wegen des Verdachts auf den Besitz und die Herstellung von Material, das sexuelle Gewalt gegen Kinder zeigt, ermittelt wird, hat die ganze deutschsprachige Schauspielzunft erschüttert. Einer, der es wissen muss, erzählt – bei einem Schnitzel –, dass der Skandal das Ensemble der Burg in eine Art Paralyse versetzt hat. Die Verbrechen sind so schwerwiegend, dass nichts sie relativieren könnte; damit konfrontiert zu werden, dass ein Kollege und Freund zu derlei fähig ist, ist dennoch schockierend.Ausgerechnet am Tag der zweiten Premiere der Saison, die am Akademietheater, der kleineren Spielstätte der Burg, stattfindet, fällt das Urteil gegen Teichtmeister. Der Prozess entpuppt sich als eine heimliche dritte Premiere, denn im Saal sitzen anscheinend eher Theaterrezensenten als Gerichtsreporter, so klingen jedenfalls die Berichte, die man dazu lesen kann und die vor allem auf Kostüm und Auftreten des Angeklagten fokussieren. Das Urteil ist milde: zwei Jahre bedingte Haft, was Österreichisch ist für „auf Bewährung“. Dazu die Auflage, drogen- und alkoholabstinent zu bleiben und zur Therapie zu gehen. Da speichert einer 76.000 Bilder von sexuell misshandelten Kindern, erstellt Collagen und verfasst dazu sadistische Fanfiction – und muss keine Sekunde ins Gefängnis. Vor dem Gericht protestieren Rechte mit selbst gebasteltem Galgen und die progressiven Österreicher sind in der Zwickmühle: Wie dieses Urteil kritisieren, ohne sich mit diesen Mördern im Wartestand gemeinzumachen?Das fidele Premierenpublikum ficht das nicht an. Der Name Teichtmeister scheint hier am Akademietheater keine Rolle zu spielen, zumindest nicht in den Gesprächen beim weißen Spritzer danach. Auffällig ist, wie viel vornehmer gekleidet die Wiener ins Theater gehen. Hier trägt man Dreiteiler und Abendkleid, nicht Jogginghose und T-Shirt, wie so viele in Berlin. Sogar BHs tragen die Frauen dieser Stadt! Die Inszenierung ist der Rede weiter nicht wert, kraft- und einfallslos schleppt sich Lilja Rupprechts Aneignung von Fassbinders Die bitteren Tränen der Petra von Kant zwei Stunden durch den Abend.Solides Handwerk: „Ein Sommernachtstraum“ am BurgtheaterIm prächtigen, am Ring gegenüber dem Rathaus gelegenen Burgtheater selbst, jenem „Inbegriff der Provinz“ – eine Äußerung, für die Thomas Bernhard angeblich einst zu viertausend Schilling Strafe verurteilt worden sein soll –, hat die Saison mit einem Klassiker eröffnet. Barbara Freys Inszenierung von Ein Sommernachtstraum, die schon auf der Ruhrtriennale Premiere hatte, zeichnet sich nicht gerade durch großen ästhetischen Wagemut aus – aber die handwerklich durch und durch gut gearbeitete Fassung trägt spannungsreich über zwei Stunden. Anstatt den Shakespeare’schen Humor in Kübeln über dem Publikum auszuleeren, lässt Frey ihn sich langsam entfalten. So entwickelt sich der Abend von einer düsteren Traumsequenz über das zunehmend komische Verwirrspiel bis zum glanzvollen Höhepunkt, dem Arbeiterschauspiel von Pyramus und Thisbe. Es ist eine Freude, dieser Schauspielkunst beizuwohnen. Im Saal sitzt die eine oder andere Schulklasse und die Schülerin nebenan stimmt am Ende in den Jubel ein – Publikumsnachwuchs erfolgreich akquiriert.Es ist die letzte Spielzeit unter Intendant Martin Kušej, dessen Entlassung nach nur fünf Jahren – davon zweieinhalb unter Corona-Bedingungen – für einige Irritationen gesorgt hatte. Dabei stand Kušej paradigmatisch für den Charakter der Burg: nicht zu wild, nicht zu konservativ. Der Eindruck entstand, die Verantwortlichen wollten jemanden, der für ein dezidiert anderes Programm steht, vielleicht sogar eine Frau. Die Ankündigung, dass der bisherige Kölner Intendant Stefan Bachmann übernimmt, hat die Ratlosigkeit nicht gerade gemindert; er steht für einen ähnlichen Typus wie Kušej. Immerhin kommt mit ihm ein Experte für Inszenierungen von Stücken Elfriede Jelineks, ein später Triumph der in Österreich so oft geschmähten Literaturnobelpreisträgerin.Die Plakate jedenfalls, mit denen die Burg die Innenstadt schmückt, muten wie ein trotziger Abschiedsgruß an. Alle politische Zurückhaltung fahren lassend, plakatiert das dem Staat gehörende Theater antifaschistische Parolen: Fluchtwege freihalten. Wer beobachtet die Völkischen? Aufwachen, bevor es wieder finster wird. Und, auf der Fassade selbst, nach der Vorstellung: Aufstehen. Derweil steht die FPÖ in den Umfragen mit etwa 30 Prozent auf dem ersten Platz – in Wien sieht es freilich anders aus, aber dass die SPÖ hier selbstbewusst mit dem Claim „Die Wien-Partei“ auftritt, wirkt unfreiwillig so, als hätte sie den Anspruch auf den Rest Österreichs aufgegeben.Im Volkstheater: Ingeborg Bachmanns „Malina“ in schrillAus Wien nicht wegzudenken sind auch die Würstelbuden, und eine gibt es direkt vor dem Volkstheater. Hier kann man sich mit einem Käsekrainer im Brot oder aufgeschnitten mit Salzgurke und Kren für die Vorführung stärken. Das Volkstheater ist so etwas wie die coole Schwester der Burg. Man kann hier T-Shirts mit der Aufschrift „Ich hasse Theater“ kaufen, und nicht nur die Tatsache, dass das Wort „hasse“ in Fraktur gesetzt ist, erinnert an die Volksbühne in Berlin. Alles hier ist jünger, hipper, moderner. Auf der Herrentoilette gibt es Hygienebeutel (auf deren Halterung ironischerweise „For lady“ steht) und die Anzüge sind bunter; es gibt Schiebermützen, Samthosen und Leinenhemden. Und natürlich eröffnet das Volkstheater seine Saison auch wesentlich kecker: Auf dem Programm steht Ingeborg Bachmanns Roman Malina, inszeniert von Claudia Bauer. Da Bauers Stück humanistää! nach Texten von Ernst Jandl im vergangenen Jahr zum Berliner Theatertreffen eingeladen war – das erste Mal seit 1970 für das Volkstheater –, ruhen auf diesem Abend viele Hoffnungen.Zunächst scheint Bauers grotesk-schriller Stil – grelle Farben, Masken, Sprechchöre, Musik – nicht zu Bachmanns düsterer Prosa zu passen. Aber nach einer Weile wird klar, wie gut sich das ausgeht: Bachmanns Themen, die Zersplitterung des Ichs und die Unmöglichkeit, ein kohärentes Subjekt Frau zu konstituieren, treten in Bauers Inszenierung deutlich zutage. Nur Ivan, der zeitweilige Geliebte der namenlosen Ich-Erzählerin, hat hier einen festen Schauspieler; die Dialoge, die das Scheitern von Kommunikation illustrieren, erfüllen diese Funktion auf der Bühne noch besser als im Buch. Grandios wie humanistää! ist Malina nicht, aber allemal eine gelungene Inszenierung – das findet auch das Publikum, das lang anhaltend applaudiert und jubelt.Mit einem Wiener Frühstück – ein gekochtes Ei, zwei Semmeln, Butter und Marillenmarmelade, dazu eine Melange – enden die Tage in Wien. Die Rückfahrt geht – das k. u. k. Eisenbahnnetz verpflichtet – über Prag. Im Speisewagen der tschechischen Eisenbahn gibt es Lendenbraten mit Rahmsauce, Preiselbeeren und Serviettenknödeln, dazu ein frisch gezapftes Pilsner Urquell. Hoffentlich überlebt die gute Laune die Ankunft in Berlin – jener Stadt, die nach 30 Jahren städtebaulicher Großverbrechen nach überhaupt gar nichts mehr aussieht.Placeholder infobox-1