Auf den einstigen Staatsratsvorsitzenden der DDR Erich Honecker geht einer der knackigsten Slogans des Sozialismus zurück: Vorwärts immer, rückwärts nimmer! Was dieser vor Fortschrittsoptimismus triefende Ansatz indes vergisst: Fährt man gegen eine Wand (oder halt eine Mauer), muss man bisweilen den Rückwärtsgang einlegen, um überhaupt wieder vorwärtszukommen.
Glücklicherweise sind die Berliner Festspiele keine Gerontokratie, sondern durchaus korrekturfähig. Noch vor anderthalb Jahren schien es, als würde sich das von den Festspielen ausgerichtete Theatertreffen, das wichtigste Festival dieser Art im deutschsprachigen Raum, grundlegend verändern – in den Augen vieler Kritiker: an die Wand fahren. Die Berufung eines vierk
ines vierköpfigen Leitungsteams und die angekündigte Europäisierung schienen den Kern der Veranstaltung – die von Theaterkritikern bestimmten zehn bemerkenswerten Inszenierungen – zu bedrohen. Heraus kam das hybride Treffen vom vergangenen Jahr, bei dem die Aufführungen der Zehner-Auswahl allerdings eher lose verbunden waren mit dem Rahmenprogramm der „10 Treffen“, das die bereits auf drei Köpfe geschrumpfte Leitung organisierte. Es war klar: Dieses Mischkonzept ging nicht auf.Wände kann man freilich auch durchbrechen, allerdings nicht, ohne erheblichen Schaden in Kauf zu nehmen. Man entschied sich bei den Berliner Festspielen für den Rückwärtsgang. Zum 1. Januar übernahm Nora Hertlein-Hull die Leitung. Deren Ankündigungen bei einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag lassen den Schluss zu, dass das Festival nun eher dem Motto eines anderen deutschen Politikers folgt: Konrad Adenauers „Keine Experimente!“.Keine „Scheiße am Ärmel“: Das Theatertreffen bleibt ein Festival der KritikDas Theatertreffen hat also wieder auf die alte Spur gefunden: Im Zentrum steht die Zehner-Auswahl, dazu gibt es das Internationale Forum und ein bisschen brancheninternen Diskurs, das war’s. In der Theaterkritik stößt das weitgehend auf Wohlwollen, was nur missgünstige Zungen ausschließlich damit erklären würden, dass das Theatertreffen mit seiner Kritikerauswahl diese Zunft so hochhält wie wohl niemand mehr in einem Betrieb, in dem Kritiker auch mal als „Scheiße am Ärmel“ beschimpft oder gleich mit selbiger beworfen werden.Womit wir bei der diesjährigen Auswahl wären. Zu den zehn bemerkenswerten Inszenierungen, die im Mai im Haus der Berliner Festspiele zu sehen sein werden, gehört auch Die Hundekot-Attacke vom Theaterhaus Jena. Der Angriff eines Choreografen auf eine Kritikerin mit dem Kot des Dackels des Ersteren hatte im vergangenen Jahr für Empörung gesorgt. Der Abend hat dem kleinen Theater in Thüringen nicht nur viel Aufmerksamkeit eingebracht, sondern nun eben auch die erste Einladung nach Berlin überhaupt. Und zwar, so die Begründung der Jury, weil es ein Abend über das Theater selbst sei und obendrein „charmant“ und „hinreißend“.Mit einem „Fäkaliendrama“ hat es auch das Staatstheater Nürnberg zur ersten Nominierung geschafft, und zwar mit ÜBERGEWICHT, unwichtig: UNFORM des Österreichers Werner Schwab. Darin geht sich eine Kneipengesellschaft an die Gurgel. Jury-Mitglied und Freitag-Autor Martin Thomas Pesl fand, das sei „in seiner pubertär kichernden Obszönität mit beglückender Perfektion umgesetzt“.Mittelerde statt Mitteleuropa: Herr der Ringe als einzige RomanadaptionWem die Scheiße jetzt bis zum Hals steht, der sei beruhigt: Das war’s mit Kot. Allerdings auch mit Provinz, die übrigen acht Einladungen gehen an bewährte Theatermetropolen und Festivals: Berlin, München, Zürich, Bochum, Hamburg, Salzburger Festspiele und Ruhrtriennale. Deutlich wird dabei: Was voriges Jahr nur ein Zeichen war, hat sich zum Trend verdichtet. Die Zeit der Romanadaptionen ist vorbei, das Theater scheint eine Art neues Selbstvertrauen gewonnen zu haben. Fünf Uraufführungen sind unter den Eingeladenen, aber natürlich auch deutsche (Lessings Nathan aus Salzburg), englische (Shakespeares Macbeth vom Schauspielhaus Bochum) und russische (Tschechows Platonow unter dem Namen Die Vaterlosen von den Münchner Kammerspielen) Klassiker. Neben virtuoser Schauspielkunst, willensstarkem Regietheater und klugen Texten gibt es auch performativ-experimentelle Formate wie die Herr-der-Ringe-Adaption (der einzige Roman, der es geschafft hat) Riesenhaft in Mittelerde™ aus Zürich und das als „Kreation und Performance“ betitelte Werk Extra Life von Gisèle Vienne, das bei der Ruhrtriennale zu sehen war. Für alle was dabei, aber eben auch einigermaßen repräsentativ für die Vielfalt der Bühnen im deutschsprachigen Raum.Als einziges Haus doppelt eingeladen ist die Schaubühne aus Berlin, mit den Abenden The Silence, einer Trauer-Introspektion von Falk Richter, und dem musicalhaften Traumabewältigungsstück Bucket List von Yael Ronen und Shlomi Shaban, das von den Ereignissen des 7. Oktober 2023 überrollt wurde. Die Einladung dieses Stücks, dessen Premiere nur unter Sicherheitsvorkehrungen möglich war, weil das Produktionsteam zu großen Teilen aus Israelis bestand, zeigt nebenher, dass der staatlich geförderte Theaterbetrieb offenbar eines weniger hat, was sonst viele in der Kulturwelt zu haben scheinen: ein Antisemitismus-Problem.Der Rückwärtsgang hat sich also gelohnt, das Theatertreffen bekommt neuen Schwung. Das Bewährte ist manchmal eben doch das Bessere, die Beständigkeit kann Hort der kreativen Innovation sein. Und das Theater ist, allen Widrigkeiten zum Trotz, sehr lebendig.