Eine kommende Bewegung?

Selbstverteidigung Seitdem die Totalüberwachung bekannt ist, reden viele im Netz so, als ginge es jetzt um alles. Das tut es für andere schon eine ganze Weile

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Eine kommende Bewegung?

Foto: ekvidi / Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Seitdem über Prism/Tempora/XKeyscore geredet wird, wird auch über eine neue Netz-Bewegung spekuliert, die sich jetzt formieren könnte/sollte/müsste. Als habe man mit den staatlichen Überwachungsprogrammen das größtmöglich denkbare Übel unserer Zeit gefunden, und wer jetzt nicht verstanden hat, dass hier was schief läuft, dann … Nachdem am Wochenende ein paar Tausend Menschen gegen Überwachung demonstriert haben, stellen sich noch mehr Fragen – Fragen, die sich Linke schon seit Ewigkeiten stellen: Ist den Menschen nicht klar, dass PRISM/Tempora/XKeyscore/der Kapitalismus eine Katastrophe ist? Wie bekommt man mehr Leute dagegen auf die Straße? Gibt's noch eine Partei, die "uns" repräsentieren könnte? Wieviel Selbstorganisation wollen/brauchen wir, welche Forderungen stellen wir an den Staat?

Auf einmal diskutieren Netzjournalisten die links-typischen Strategie- und Taktikfragen: Während Christian Stöcker (SpOn) das „Konstrukt demokratischer Rechtsstaat“ nicht aufgeben will "nur weil Geheimdienste durchdrehen", attestiert der Datenjournalist Lorenz Matzat all jenen eine "unerschütterliche Staatsgläubigkeit", die von der Regierung noch Schutz vor Geheimdiensten erwarten. Unser Gemeinwesen lasse sich unter den "bestehenden Formen von Herrschaft, Konsum und Wirtschaft nicht reparieren oder reformieren"; „digitale Selbstverteidigung“ und die Suche nach Alternativen jenseits der etablierten Strukturen seien das „Gebot der Stunde“. Für Dirk von Gehlen (SZ) schließt das eine das andere nicht aus, er findet es aber merkwürdig, „diese Debatte ausgerechnet am #StopWatchingUs-Tag zu führen. Wofür wollen wir unsere Energie eigentlich einsetzen?“

Nun könnte man ja froh sein, dass sich mehr Menschen diese Fragen stellen. Aber irgendwie ist es auch seltsam. Das findet zumindest publikative.org und hat sich darüber empört, dass sich so viele Menschen auf einmal so abstrakt empören, wo doch zum Beispiel die Funkzellenabfrage bei Anti-Nazi-Demos längst gängige Praxis ist. Und wenn es doch mal konkret werde, gehe es gegen Amerika (geht’s eigentlich noch, „Stern“?).

Beim "großen BND Spaziergang“ am Montag in Berlin war zwar ein konkretes Ziel vor Augen, es wurde aber vor allem über Wut und „Verteidigung der Demokratie“ geredet – und in einem Beitrag kam so oft das Wort „Freiheit“ vor, dass eigentlich nur noch Joachim Gauck gefehlt hat. Zum Glück war auch Jakob Appelbaum dabei, der mit Blick auf den gigantischen BND-Neubau ganz leise und materialistisch folgerte: „wenn ihr das alles nicht wollt, müsst ihr solche Gebäude eben einreißen".

Die Konfusion über den Zustand der Gegenwart ist ja zunächst mal nichts Schlechtes. Konkret wird sie jedoch nicht, indem man folgert: konzentrieren wir uns auf den Claim "gegen Überwachung", dann kommen zur nächsten Demo bestimmt mehr Leute. Konkret wurde es am verganegen Wochenende zum Beispiel in Frankfurt, als die „Stop Watching Us“-Demo mit einem Sit-In an die Einkesselung der Blockupy-Demo erinnerte.

Konkret werden bedeutet, sich umschauen und merken, dass da schon Menschen sind, die für Räume jenseits staatlicher Kontrolle kämpfen, die es ernst meinen damit, eine "verlorene Welt zurückzuerobern". Und vielleicht haben sie bei all der Arbeit einfach keine Kraft, um auch noch "gegen Überwachung" anzuschreiben und auf die Straße zu gehen.

Niemand muss jetzt aktionistisch in der Gegend herumspringen, um es allen Recht zu machen. Aber es müsste irgendwie klarer werden, dass man sich bei den Protesten gegen PRISM (und was da noch kommen mag) in einem gesellschaftlichen Kontext befindet, den man nicht ausblenen kann. Auch von links werden diese Zusammenhänge bisher zu wenig aufgezeigt.

Schon vor zwei Jahren, als die staatliche Überwachung wieder einmal eine neue Qualität erreicht zu haben schien, schrieb Dietmar Dath:

Jeder Biedersinn, der „nichts zu verbergen“ hat, krankt angesichts dieser Tatbestände nicht nur an fehlendem Unrechts- und Grundrechtsbewusstsein, sondern vor allem an einer 2011 mit nichts mehr zu entschuldigenden Informationsverarbeitungsschwäche. (…)

Die Abschottung von Grenzen gegen Migranten von außerhalb der Eurozone, der Krieg gegen den Terror oder staatsanwaltliche Sonderermittlungen gegen Ärzte, die sich nicht hinreichend an amtlich verordneten Sparsamkeitskriterien orientieren, gehören in ein und dasselbe Zeitklima. Dessen gemeinschaftskundliche Lektion ist immer dieselbe: Verdächtige, Flüchtlinge und Überschuldete erwischt es zuerst. Wenn aber die liberalen Bürger nicht aufpassen, sind bald Selbständige und andere Leistungsträger dran. Wer die ohnehin Ungeschützten im Regen stehenlässt, gibt den Rest unfreundlichem Wetter preis.

PRISM ist der Niselregen, der jetzt alle streift. Eine kommende Bewegung würde nicht an den Ertrinkenden vorbeilaufen. Tut sie es doch, bewegt sie nichts.

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