Tag 3: Immer radikal, nie konsequent

kritische Theorie Antideutsche, Kulturindustrie, die iranische Bombe und die Revolution – dritter und letzter Bericht über die Konferenz "Eine Erinnerung an die Zukunft"

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sorry to say: Die virtuelle Peitsche wird den materiellen Absturz der virtuellen Gemeinschaft nicht verhindern. Aber hey, einmal noch: #slingslash
Sorry to say: Die virtuelle Peitsche wird den materiellen Absturz der virtuellen Gemeinschaft nicht verhindern. Aber hey, einmal noch: #slingslash

Screenshot: BLR

Dritter von drei Teilen eines subjektiven Protokolls zur Konferenz "Kritische Theorie – Eine Erinnerung an die Zukunft", die vom 29.11.-1.12.13. an der HU in Berlin stattfand (Programm).

Tag 1: Ohne Angst verschieden sein
Tag 2: "Ich halt's nicht mehr aus!"

Am letzten Tag folgten noch ein Vortrag zur „Kulturindustrie heute“ sowie das Abschlusspodium mit dem alles-und-nichtssagenden Titel „Widersprüchliche Totalität und widerständige Subjektivität“. Zuvor wird an diesem Sonntagmorgen unter der nicht minder kryptischen Überschrift „Kritische Theorie und blinder Fleck des Souveräns“ noch einmal die Sache mit den Antideutschen aufgerollt. Was insofern nicht einfach wird, als der eingeladene Gerhard Scheit abgesagt und die Antideutschen-Kritikerin Ilse Bindseil nun ohne Gegenpart auf dem Podium sitzt. Dieser wird dafür umso heftiger von dem sich zu Wort meldenden Teil der 150 Zuhörer_innen übernommen.

Bindseil wird nach den Gründen für ihren offenen Brief an Gerhard Scheit im Jahr 2001 und nach der Abspaltung der „Antideutschen“ von jener „freien kritischen Theorie“ gefragt, wie sie Bindseil fordert. Sie antwortet, die Antideutschen hätten mit Adornos Imperativ, „Denken und Handeln so einzurichten, dass sich Auschwitz nicht wiederholt“, einen Sprung in die Praxis vollzogen, durch den Denken und Handeln gleichgesetzt würden.

Adorno-Schüler als NATO-Offiziere

Diese Gleichsetzung habe zu einer Militarisierung und Instrumentalisierung des Denkens geführt. Die Antideutschen verstünden sich als elitärer Zirkel aus Denker_innen, die als einzige den Holocaust richtig verstanden hätten und von denen alleine seine Nicht-Wiederholbarkeit abhänge. Wenn dem so wäre, wären wir allerdings alle verloren. Israel sei nicht das Thema einer bestimmten Denkschule, sondern ein politisches. Es sei schon erstaunlich, wie Antideutsche mit absoluter Sicherheit hochkomplexe Fragen beantworten könnten, obwohl sie teils keine Ahnung von israelischer Politik hätten. Sie redeten, „als wäre man nicht Adorno-Schüler, sondern NATO-Offizier“.

Ziemlich böse wird Bindseil daraufhin von mehreren Kommentatoren aus dem Publikum vorgeworfen, sie stelle die Solidarität mit Israel in Frage. Und wie um ihren Einwand eines militarisierten Denkens zu bestätigen, meldet sich ein 20-Jähriger und sagt, es stelle sich derzeit eigentlich nur die Frage, nämlich ob man sich angesichts der iranischen Bombe zum Freiwilligendienst bei der israelischen Armee melden solle. Die, die das nicht tun würden, sollten sich auch nicht mehr auf Adorno berufen, das sei nämlich sonst feige.

Etwas perplex entgegnet Bindseil daraufhin, er solle sich ruhig bei der israelischen Armee melden, aber eben nicht als kritischer Theoretiker, sondern als Thomas oder wie er eben heiße. Nach einigen weiteren teils aggressiven Einwänden gibt es zum Schluss doch noch den dankbaren Applaus einer während der Diskussion schweigenden Mehrheit.

Vergnügen = Leiden vergessen

Zum Vortrag von Jordi Maiso über die „Kulturindustrie heute“ ist der Saal wieder voll mit über 600 Leuten, darunter viele junge, manche schwarz gekleidet und mit Jute-Beutel auf denen Dinge wie „YOU MAKE ME“ stehen. „Kulturindustrie“, fängt Maiso an, bezeichne den Moment, an dem die Vermittlung durch den Markt alle gesellschaftlichen Bereiche des Alltags umfasst habe.

Die Kulturindustrie stelle subjektiven Konformismus her, indem sie die Subjekte nicht durch Zwangsmaßnahmen diszipliniere, sondern deren Verlangen nach einem besseren Leben wachrufe und gleichzeitig betrüge. Sie biete keine Flucht von der Realität, sondern kassiere so den letzten Widerstandsgeist, der noch in den Subjekten schlummere. „Vergnügen heißt heute nur noch, das Leiden zu vergessen.“

Kulturindustrie 2.0

Bis hierhin bezieht sich Maiso auf das Kulturindustrie-Kapitel der „Dialektik der Aufklärung“. Jetzt versucht er sich an einer aktualisierten „Kulturindustrie 2.0“, die der Digitalisierung gerecht werden will. Die Angst, den Anschluss an den materiellen Wohlstand zu verlieren, ist für Maiso das entscheidende Moment für die Analyse dieser Kulturindustrie 2.0. Die „virtuelle Gemeinschaft“ spiegele den Wunsch der Menschen, an der Konsumwelt teilzuhaben. Die Vernetzung in der virtuellen Gemeinschaft werde umso wichtiger, je mehr die Menschen von der Teilhabe am materiellen Wohlstand ausgeschlossen würden.

Wenn alle Inhalte im Netz digital verfügbar seien, so Maiso weiter, werde der Produktionsprozess des Produkts unsichtbar. Dadurch verschwinde auch die Erfahrung, die man aus einem Kulturprodukt schöpfen könne. Es gehe also nicht mehr um den Inhalt der Kulturprodukte. Spiele, Filme, Apps etc. seien nur noch Anreiz, sich immer wieder die neuesten Gadgets zu besorgen (iPhones, iPads, Konsolen…).

"Durch welches Mauseloch kann ich jetzt noch handeln?"

Während es in der „alten“ Kulturindustrie darum gegangen sei, Menschen die Rhythmen der Arbeitswelt einzuhämmern, klopften diese heute freiwillig auf ihren Displays dazu im Takt. Angetrieben von der Angst abzustürzen, sei heute jeder sein eigener Freund und Feind, sein eigener Arbeiter und Kapitalist. „Aber läuft das alles so glatt, wie beschrieben?“, fragt Maiso als nächstes und zitiert die Songzeile „as long as the music is loud enough, we won’t hear the world falling apart“. Sehr viel lauter könne die Musik heute mehr werden. Was, wenn sie in Panik umschlage? Der kritischen Theoriebleibe nichts anderes übrig, als an die Narben der Subjekte anzudocken und sie auszumalen – „einen anderen Weg haben wir nicht“.

„Wo ist jetzt das Mauseloch, durch das ich noch Handeln kann?“ lautet die erste Frage. Dieses Mauseloch werde stetig kleiner, antwortet Maiso. Es werde immer schwerer, in dem Überfluss an symbolischem Content Verbindlichkeit herzustellen, nun da der Konsument zum User geworden sei und ständig facebooke, twittere und sich selbst aktivieren müsse etc.

Spätestens hier wird aus „Kulturindustrie 2.0“ dann doch eher konservative Technikkritik, wie man sie aus den Zeitungen kennt. Dabei ist Maiso selbst noch in den Dreißigern. Doch außer dem dialektischen Einschub, die virtuelle Gemeinschaft habe den materiellen Ausschluss zu kompensieren, bleibt sein Konzept ziemlich einseitig.

Fragen danach, ob der Inhalt der Kulturprodukte wirklich keine Rolle mehr spiele – müsse man sich nicht doch genauer anschauen, warum zum Beispiel ausgerechnet GTA V das erfolgreichste Spiel aller Zeiten geworden sei – verneint Maiso. Auch diese Spiele seien nur Kaufanreize für die neuesten Konsolen-, Smartphones und Gadgets. Das macht die Kulturindustrieanalyse vielleicht materialistisch, aber eben auch ziemlich eintönig. Denn Maiso verzichtet so auf die eigentlich spannende Frage – welche Produkte in was für sozialen Zusammenhängen von wem und warum konsumiert werden.

Kaum Eingriffe aus der "Pension Abgrund"

Immerhin ergänzt Maiso später, dass nicht alles an der Digitalisierung schlecht sei, sie habe durchaus auch positive Nebeneffekte. Aber die TENDENZ gehe eben ins Schlechte. Er verweist auf Adornos „Eingriffe“, seine regelmäßigen Auftritte in Radio und Fernsehen, aus denen man ja auch ableiten könne, dass aus der diagnostizierten schlechten Tendenz keineswegs folge, auf Interventionen zu verzichten oder sich aus der Kulturindustrie bestmöglich rauszuhalten (geht ja eh nicht). Aber da hätte man ja auch mal früher hinleiten können, um dann nach zeitgemäßen Eingriffen zu fragen. Dass die Tendenz in Richtung Scheiße geht, dürfte sowieso allen Anwesenden klar sein.

Mittlerweile, sagt Maiso an einer Stelle scherzhaft, seien die kritischen Theoretiker_innen aus ihrem Hotel in die „Pension Abgrund“ umgezogen – ersteres könnten sie sich nicht mehr leisten. Dass man es sich auch in dieser Pension ganz gemütlich machen kann, kann man auch auf dem Schlusspodium wieder beobachten.

"Geht vielleicht doch noch was?"

Die Frontstellung wird gleich nach den Eingangsstatements klar: Lars Quadfasel und Dirk Braunstein überbieten sich mit Beiträgen zur Beklopptheit von allem und der Unsinnigkeit konkreter Praxis, die ja doch nur den Kapitalismus reformiere. Nina Rabuza und Karina Korecky bestehen auf die konkreten Ohnmachtserfahrungen derer, die sich das Privileg eines solch abstrakten Geschwurbels gar nicht leisten könnten, weil sie alles darauf verwendeten, ihren Alltag irgendwie zu verbessern.

Nina Rabuza geht in ihrem Eingangsstatement auf die Frauenbewegung ein. Sie finde es zynisch, jede Reform abzuqualifizieren, nur weil sie nicht automatisch das Ganze hinweggefegt habe. Eine kritische Theorie müsse die gesellschaftlichen Verzahnungen zwar wahrnehmen, aber auch die einzelnen, kleinen Schritte darin erkennen.

Lars Quadfasel weist dann zunächst die Hoffnungen, die man nach solchen Konferenzen immer an das letzte Podium stelle, zurück – die Hoffnung, „es geht vielleicht doch noch was“. Dafür seien die Widersprüche aus technischem Fortschritt, Überflussproduktion und dem gleichzeitigen globalen Elend einfach zu groß, Widersprüche, die die Leute permanent vor sich selbst rechtfertigen müssten, in Anbetracht derer „Demokratisierung“ nur heißen könne, das herrschende Elend als das eigene zu begreifen. Genauso verfehlt wäre es aber, „wie ein Oberchecker vom Feldherrenhügel zu sagen: Es geht gar nichts.“

Ferienprogramm Kommunismus

Quadfasel geht dann noch einmal auf das Konferenzprogramm ein und haut in die Kerbe der Gegenwartsvergessenheit, als er fragt: „Woran liegt es, dass zu dieser Konferenz Menschen mit Bussen angekarrt werden, aber letzte Woche, als über den Iran geredet wurde, von denen nicht einmal fünf Prozent hier waren?“ (hier Programm der Tagung „Politischer Islam und Kulturdialog mit dem Iran“ und die Beiträge zum Nachhören).

Warum werde nirgends über die „konkrete Scheiße“ geredet, nicht über die iranische Bombe, nicht über die Austerität in Europa, nicht über das Nachwirken der NS-Leute in diesem Land. Es gehe hier offenbar um Erinnerung und Zukunft, aber nicht um das Heute. Das sei verständlich. Die Gegenwart ertragen könne schließlich keiner so richtig. Er selbst gucke auch nicht gerne die Tagesschau und sagt dann: „Gegen den Zwang, sich hier durch den Alltag zu schleppen, wäre die Einführung des Kommunismus ein Ferienklecks“.

Passivität als Heilsversprechen

Quadfasels größte Hoffnung für die Zukunft ist so folgende: Die Subjekte werden irgendwann so schwach, dass sie ihren stetig wechselnden Feindbildern nicht mehr nachgehen können. Dann schlafen sie sich in den Kommunismus hinüber, der – wie Benjamin gesagt habe – der Zustand sei, an dem die Menschen ihr Leben beginnen, wie ein ausgeschlafener Mensch einen neuen Tag beginnt.

Dirk Braunstein pflichtet Quadfasel bei. Je mehr die Subjekte gegen ihre eigene Überflüssigkeit anstrampeln würden, desto tiefer würden sie in die Totalität gepresst. Widerstand sei daher keine Praxis, sondern der Verzicht auf sie.

Karina Korecky fehlt an diesen Beiträgen der konkrete Bezug. Es sei zwar richtig, dass diese Konferenz sehr allgemein gehalten sei. Aber das gestrige Patriarchat-Podium sei das Gegenteil von der von Quadfasel diagnostizierten Weltflucht gewesen. Da sei es um konkrete Bezüge gegangen. Dort habe sich die Frage nach Theorie und Praxis gar nicht gestellt, weil den Betroffenen klar gewesen sei, dass sie sich nicht einfach ins Bett legen und abwarten könnten. In den hinteren Reihen fängt ein Kind an zu schreien. „Ja, das passt jetzt“.

"Wäschewaschen interessiert mich nicht!"

In der Diskussion wiederholt Quadfasel seine Hoffnung, dass die Energie der Menschen, konstante Feindbilder aufzubauen, brüchig werde und dadurch ihre Fähigkeit zu hassen abnehme. In dieser Ich-Schwäche könne eine Hoffnung liegen. Aus dem Publikum folgt der Einwand, dass sich diese Ich-Schwäche auch ganz anders entladen könnte, wie man in der Geschichte dieses Landes beobachten könnte.

Korecky stellt noch einmal klar, dass sie ein wesentliches Moment für kritische Theorie in der persönlichen Betroffenheit sehe. In der Kombination von Erfahrung und Theorie sieht sie die Möglichkeiten kritischen Denkens begründet. Daraufhin sagt ein Typ aus dem Publikum, er wolle aber nicht übers Wäschewaschen reden, das interessiere ihn nicht. Er wolle lieber über die Bombe reden.

Leergut Flaschenpost

Braunstein und Quadfasel verneinen daraufhin ein „Erkenntnis-Privileg“ des Feminismus. Man könne ebenso gut am post-nazistischen Deutschland verrückt werden. Dann reden Quadfasel und Braunstein noch eine Weile über die Möglichkeiten, einen „Verein freier Menschen“ einzurichten. Quadfasel merkt an, so ganz glaubten sie ja selbst nicht daran, dass alles immer schlechter werde, „sonst müssten wir uns ganz andere Praktiken aneignen, Schießen zum Beispiel“. Es sei zwar unwahrscheinlich, aber die Hoffnung auf einen solchen Verein dürfe nicht aufgeben werden.

Nina Rabuza ist zu dem Zeitpunkt zwischen Braunstein und Quadfasel bereits weitgehend verstummt. Korecky versucht noch einmal klar zu machen, dass sie ihre Theorie nicht als Flaschenpost versteht, sondern an die Gegenwart gerichtet. Dann beendet Moderatorin Iris Dankemeyer das Podium und die Konferenz mit einem Zitat Benjamins – „immer radikal, nie konsequent“ – und mit der Bitte, das eigene zu entsorgen: „wer seine Flasche nicht mitnimmt, ist selbst eine.“

Angela Davis ftw!

Bessere Schlussworte fallen mir auch nicht ein. Vieles, was ich über die drei Konferenz-Tage geschrieben habe, deckt sich mit diesem kürzlich in der Jungle World erschienenen Text über die Lage der kritischen Theorie. Wenn die Audio-Mitschnitte der Konferenz online gehen, werde ich trotz der generellen Enttäuschung noch ein paar Sessions nachhören – zum Beispiel den Workshop „Kritische Theorie des Antiziganismus“.

Da das Patriarchats-Podium wahrscheinlich nicht dabei sein wird, kann ich guten Gewissens nur Detlev Claussens Einführungsvortrag empfehlen. Und die Vorlesung von Angela Davis in Frankfurt (hier ein Interview). Sie war für mich der inspirierendste Theorie-Input im Dezember, weil Davis durch das Zusammendenken der Kategorien „race“, „class“ und „gender“ sowie mit dem Verständnis, dass jede Reform eine neue Arena der Kämpfe eröffnet – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger – bis heute praktisch an der konkreten Utopie arbeitet: ohne Angst verschieden sein zu können.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden