Allen markigen Botschaften aus dem ECOWAS-Lager um Nigeria zum Trotz hat die „nigrische Insubordination“ Bestand. Offenbar steckt die am großen politischen Rad drehende westafrikanische Staatengruppe in einer Sackgasse. Die neuen Machthaber in Niamey bleiben Kapitulation oder Kompromiss schuldig, stattdessen ihrem Kurs treu. De-facto-Staatschef Abdourahamane Tchiani beharrt darauf, für drei Jahre eine Übergangsregierung einzusetzen, die sich eher früher als später an eine neue Verfassung halten und aus Abhängigkeiten aussteigen soll, die Niger bisher – genau genommen seit der Unabhängigkeit von 1960 – in Schach halten. Das gilt vorrangig für die Ex-Kolonialmacht Frankreich und deren Gefolgschaft im frankophonen Westafrika wie
Nigers Mangel an Ehrfurcht vor dem postkolonialen Establishment hat etwas Erfrischendes
Westafrika Die Deutung der Ereignisse in Niger ist unterkomplex, bedient eine affirmative westliche Sicht und abstrahiert vom Wandel des Souveränitätsverständnisses in Afrika, besonders in der Sahelzone
Lutz Herden
|
2

„Vorwärts“ – ohne Ehrfurcht vor postkolonialer Anmaßung: Ein Unterstützer der neuen Machthaber in Niamey
Foto: AFP/Getty Images
ie die Elfenbeinküste, Gabun und Benin. Als einer der ersten Beschlüsse nach dem Putsch vom 26. Juli wurde verkündet, man werde die Militärkooperation mit Paris suspendieren. Durchaus heikel, wenn noch 1.000 französische Militärs im Land stehen und einen Stützpunkt bei Niamey betreiben. Blutbad und SelbstzerstörungNigers neue Führer wollen Entscheidungen „ohne Einmischung von außen“. Habe man sich eines Angriffs zu erwehren, so General Tchiani, werde das für die Urheber „kein Spaziergang sein“. Das klingt so drakonisch wie unversöhnlich. Tatsächlich hat Niger mit Mali und Burkina Faso für den Fall eines regionalen Schlagabtauschs eine regionale Abwehrfront verabredet, die sich freilich erst noch beweisen müsste, käme es zum Schwur. Eine von der nigerianischen Armee getragene „ECOWAS-Eingreiftruppe“ – die mehr Peace-Enforcement- als Peacekeeping-Mission wäre – aufmarschieren zu lassen, das hieße, ein Blutbad und Selbstzerstörung zu riskieren. Der Sahel würde von einem Sturm der Gewalt erfasst werden, der Grenzen überschreiten und einen kollektiven Akteur auf den Plan rufen würde, dessen Portfolio besagt, keine Grenzen zu kennen und höchst mobil zu sein. Dschihadistische Verbände wie der État islamique au Grand Sahara, Ansar Dine und andere Al-Qaida-Filialen dürften sich nicht zweimal bitten lassen, im Kriegsfall ihren Vorteil zu suchen und nach Terraingewinn zu trachten. Sie wären der Dritte im Bunde, prädestiniert für eine „zweite Front“, um einem ECOWAS-Interventionskorps ebenso zuzusetzen wie den Streitkräften der angegriffenen Staaten. Allein um dieser Umstände willen hätte die ECOWAS-Spitze gut daran getan, nach dem Machtwechsel in Niamey nicht umgehend ein bewaffnetes Veto anzudrohen und Glaubwürdigkeit einzubüßen, je länger das ausbleibt. Bisher ist nicht mehr passiert, als dass Sanktionen verhängt wurden und ECOWAS-Emissäre am 20. August in Niamey sondiert haben, denen immerhin ein Termin beim gestürzten Staatschef Mohamed Bazoum zugestanden wurde. Dass sich eine Regional Economic Community (REC) wie ECOWAS in eine Lage manövriert, in der sie weder vor noch zurück kann, ohne sich selbst zu schaden, ist auch ein Indiz für die Nicht-Präsenz der Afrikanischen Union (AU). Sie fällt als Notfallmanager aus, obwohl das dafür nötige Instrumentarium verfügbar wäre. Weshalb nicht auf die institutionelle Inventur der AU zurückkommen, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten gelang, auch wenn sie unvollendet blieb? Als die Afrikanische Union im Jahr 2000 die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) ablöste, ging das mit einem verhaltenen Paradigmenwechsel einher, der die Souveränität von Staaten nicht länger als sakrosankt anerkannte. Nur dann, so die Maßgabe, werde man innere Konflikte von AU-Mitgliedern sowie Spannungen zwischen ihnen frühzeitig erkennen, moderieren und lösen können. Dies zielte auf eine kontinentale Sicherheitsarchitektur, derer sich seit 2004 ein Friedens- und Sicherheitsrat (PSC) der AU anzunehmen hat. Rekrutiert aus 15 Mitgliedsländern, die für zwei oder drei Jahre gewählt sind, bildet dieses Gremium einen regionalen Proporz zwischen Nord-, Zentral-, West-, Ost- und dem südlichen Afrika ab. Niemand hat ein Vetorecht, alle unterliegen dem Konsensgebot (nicht unbedingt praktikabel im Interessse des Handlungsvermögens, wie sich denken lässt). Es soll dem PSC vorbehalten sein, im Notfall als letztes Mittel eine African Standby Force als „schnelle Eingreiftruppe“ loszuschicken, falls Staaten in einen Bürgerkrieg driften, ein Genozid wie 1994 in Ruanda droht oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden. Bis heute ist dieses Tableau so respektabel wie von Wunschdenken getränkt.Viele AU-Staaten fürchten, bei solcherart Konfliktmanagement Souveränitätsverzicht leisten zu müssen, was ihren Willen mindert, sich dafür politisch oder finanziell zu exponieren. Überdies sind für eine derartige Agenda Kernstaaten der AU wie Ägypten, Algerien, Nigeria oder Südafrika unverzichtbar, aber nicht dagegen gefeit, dabei eigenen Interessen zu folgen. Die Probe aufs Exempel für mehr diplomatische Mündigkeit der AU hätte im Frühjahr 2011 der Konflikt in Libyen sein können, als das Regime des Staatschefs Muammar al-Gaddafi im Sog des Arabischen Frühlings durch bewaffneten Widerstand in Bedrängnis kam und eine Luftintervention diverser NATO-Staaten den Konflikt anfeuerte. Um das endgültige Abgleiten in einen Bürgerkrieg zu verhindern, benannte der AU-Sicherheitsrat eine Vermittlergruppe, die im mauretanischen Nouakchott auf die Weiterreise nach Libyen wartete, um dort eine Waffenruhe auszuhandeln und die Konfliktparteien an einen Tisch zu bringen. Leider mussten die Emissäre bleiben, wo sie waren, sie scheiterten am Veto des UN-Sicherheitsrates, für den die von westlicher Militärmacht durchgesetzte Flugverbotszone über Libyen Priorität hatte. Ohnehin wollten die USA und Frankreich keine Feuerpause, sondern den Sturz Gaddafis. Zwei Monate später, Mitte Mai 2011, unternahm die Afrikanische Union erneut einen diesmal hochkarätigen Vermittlungsversuch, indem mehrere Präsidenten unter Führung des Südafrikaners Jacob Zuma in Tripolis vorstellig wurden und auf einen kompromisslosen Gaddafi stießen. Der wollte erst verhandeln, wenn der Himmel über Libyen wieder frei von NATO-Jets sein würde. Er hat das nicht überlebt.So ist dem Krisenmanagement einer reformierten AU, die ihre institutionellen Möglichkeiten ausschöpft, bisher kein überzeugender Erfolg beschieden. Entweder kollidiert man mit externen Mächten oder dem Souveränitätsanspruch von Mitgliedern wie Äthiopien und Eritrea, als ab Ende 2020 die Nordprovinz Tigray im Mahlwerk eines bewaffneten Konflikts untergeht. Wo die Afrikanische Union ohnmächtig bleibt, haben umso mehr die RECs ihre Chance, zumal seit 2007 jeder Staat nur noch in einer davon vertreten sein darf. Von besonderem Gewicht sind die Südafrikanische Entwicklungsgemeinschaft SADC, der Ostafrika-Verbund EAC oder eben ECOWAS. Keinesfalls übersehen werden sollte: Den vergeblichen oder unterlassenen politischen Interventionen der AU steht eine ganze Serie von Militärinterventionen Frankreichs in West- und Zentralafrika gegenüber. Mittlerweile fast vergessen scheint die „Opération Turquoise“ von Juni bis August 1994. Während des Genozids am Volk der Tutsi in Ruanda sorgte das Eingreifen eines französischen Militärkorps dafür, dass Politiker des Hutu-Regimes als Hauptverantwortliche des Gemetzels durch einen Korridor entkommen konnten, als die Patriotische Front (RPF) des heutigen Präsidenten Paul Kagame im Begriff war, den Mördern die Macheten aus der Hand zu schlagen. Die Regierung in Paris hatte bis Ende 1994 keine Skrupel, alles zu tun, um internationale Hilfe für das traumatisierte Land im Herzen Afrikas zu blockieren. Das postkoloniale Wertesystem erlebte eine Sternstunde. Dabei hatte der sozialistische Präsident François Mitterrand bei den franko-afrikanischen Gipfeltreffen 1990 in La Baule und 1994 in Biarritz hingebungsvoll versichert, in Afrika nicht länger „der Gendarm des Westens“ sein zu wollen. Tatsächlich wurde nie vollzogen, was vehement versprochen war. Ende 2012 ließ François Hollande in der Ex-Kolonie Mali intervenieren und setzte mit der „Opération Serval“ ein Kontingent von 2.500 Soldaten in Marsch, um dschihadistischen Freischärlern und Tuareg-Rebellen aus dem Norden den Weg in die Hauptstadt Bamako zu verlegen. Im Jahr darauf kam es unter ähnlichen Vorzeichen zur „Opération Sangaris“ in der Zentralafrikanischen Republik, wohin 1.200 Militärs entsandt wurden, um muslimische Séléka-Milizen zu entwaffnen und die christliche Bevölkerung zu schützen. Als daraufhin Bewohner der muslimischen Viertel der Kapitale Bangui gelyncht wurden und das externe Militäraufgebot dem zusah, tauchte in der Stadt die Parole auf: „Non au génocide de Hollande“. Frankreichs Staatschef hatte erklärt, „durch eine humanitäre Intervention eine humanitäre Katastrophe verhindern“ zu wollen – das Gegenteil war der Fall.Im August 2014 wurde die „Opération Serval“ durch die „Opération Barkhane“ abgelöst, die neben Mali nun auch den Tschad, Burkina Faso, Mauretanien und Niger einbezog. Es wurde mehr Personal gebraucht, diesmal 5.100 Soldaten aus Frankreich, flankiert von Verbänden der fünf Sahel-Staaten, von Paris als „G5“ des Antiterrorkampfs vergattert. Erstmals wurden von der französischen Air Base bei Niamey gesteuerte Drohnen des Typs MQ-9 eingesetzt, doch missglückte „Barkhane“ wie zuvor schon „Serval“. Am 10. Juni 2021 entschied der inzwischen regierende Emmanuel Macron, den Einsatz im Jahr darauf zu beenden. Trotz der französischen Militärpräsenz hatte sich die Zahl islamistischer Anschläge in der Region seit 2014 verfünffacht, wovon besonders Burkina Faso betroffen war. Woran es krankte? Zum Beispiel am Willen der Franzosen, die Souveränität der Sahel-Staaten zu respektieren, deren Luftraum nicht als eigene Hoheitszone zu betrachten und Zivilisten zu beschützen statt zu beschießen. Die Bruchlandung von „Barkhane“ wurde zum Vorspiel für die Übernahme nationaler Verantwortung durch Militärregierungen in Mali ab Mai 2021, in Burkina Faso ab Oktober 2022 und in Niger vor einem Monat. Im Bestreben, den eigenen Tod als Kolonialmacht zu überleben, hat sich Frankreich in Westafrika mehr als ein halbes Jahrhundert lang immer wieder als Ordnungsmacht inszeniert. Militärs in Niamey sehen es nun als ihre patriotische Pflicht, dem entschlossen Einhalt zu gebieten. Ihr Mangel an Ehrfurcht vor postkolonialer Anmaßung hat etwas Erfrischendes. Die erhobene Forderung, sie müssten zur Demokratie zurückkehren, meint in Wirklichkeit, sie sollten anerkennen, dass saturierte Verhältnisse restauriert gehören, denen Demokratie bisher nicht viel anhaben konnte oder wollte.