Fall Alfred Kattner: Gestapo erschießt John Schehr und weitere KPD-Genossen
Zeitgeschichte 1934 Im ersten Jahr der NS-Diktatur gelingt es der Gestapo, die verbotene KPD durch ein System von Spitzeln und Überläufern zu unterwandern. Der Fall des Kuriers Alfred Kattner ist dafür ein besonders prägnantes Beispiel
Der Mond schwimmt in den Wolken, dichter, frostiger Nebel verschluckt das Dickicht in dieser stillen Gegend an der Königstraße, die von Berlin-Wannsee Richtung Glienicker Brücke und Potsdam führt. Am Abend des 1. Februar 1934 hält dort unterhalb des Schäferberges ein mit Planen verschlossener Lastkraftwagen. Als die Ladeklappe fällt, springen vier Männer ab und werden von einem auf sie wartenden Gestapo-Trupp in den Wald getrieben. Die vier hören das Kommando „Haut ab“, schauen sich um und sehen nichts als Nacht und Feuer.
„Auf der Flucht erschossen“ werden John Schehr, KPD-Vorsitzender, seit Ernst Thälmann Anfang März 1933 verhaftet worden ist, Rudolf Schwarz, Chef der KPD-Abwehr, Eugen Schönhaar, Herausgeb
Herausgeber der verbotenen Roten Fahne, und Erich Steinfurth, einst Landtagsabgeordneter in Preußen. Ihr Tod ist ein Schock, die nächste Katastrophe für eine Partei, die durch das Naziregime in den Untergang getrieben wird, auf dass nichts oder nichts Nennenswertes von ihr übrig bleibt. Den Widerstand gegen das NS-Regime aus dem Untergrund heraus führen zu wollen, erweist sich einmal mehr als tödliches, nicht beherrschbares Risiko. Die Gestapo hat die KPD im ersten Jahr der Diktatur durch Spitzel und Überläufer unterwandert. Die Partei kann sich ihrer selbst nicht mehr sicher sein.Stephan Hermlins Buch „Die erste Reihe“An die vier Toten erinnert nach dem Ende des Dritten Reichs unter anderem der Schriftsteller Stephan Hermlin (1915 – 1997), der in seinem 1951 erschienenen Buch Die erste Reihe besonders Rudolf Schwarz würdigt. Eine Filmversion des DDR-Fernsehens erzählt in einer Szene von seinem letzten Treffen mit Gleichgesinnten in Berlin. „Ich weiß nicht, ob wir uns alle in diesem Kreis je wiedersehen. Ich wünschte es mir.“ – „Für wie lange müssen wir die Übermacht des Feindes ertragen?“ – „Wie lange auch immer“, rafft sich Schwarz zu unerhörter Zuversicht auf. „Wir müssen siegen, und dann sehen wir uns ja wieder.“Wie sehr die Morde am 1. Februar 1934 im Düppeler Forst in Deutschland und außerhalb erschüttern, zeigt das im lothringischen Exil vom Dichter und späteren Spanien-Kämpfer Erich Weinert (1890 – 1953) verfasste Poem John Schehr und Genossen, in dem es heißt: „John Schehr sagt: ‚So habt ihr es immer gemacht! / So habt ihr Karl Liebknecht umgebracht!‘ / … / Sie schleppen sie in den dunklen Wald. / Und zwölfmal knallt es und widerhallt. / Da liegen sie mit erloschenem Blick, / jeder drei Nahschüsse im Genick ...“ Was die Schilderung ausblendet: Die Schüsse hatten ein Vorspiel am gleichen Tag. Es offenbart, wie der Nazi-Terror der KPD existenziell derart zusetzt, dass ethische Normen entfallen und das Töten von Spitzeln als unerlässlich gilt, wenn von diesen tödliche Gefahr ausgeht. Die Exekution von Schehr und Genossen ist auch ein Racheakt des Regimes.Placeholder image-1Am nächsten Tag, dem 2. Februar 1934, erscheint der Völkische Beobachter mit der Schlagzeile „Kronzeuge gegen Thälmann von Kommunisten erschossen“. Gemeint ist Alfred Kattner, 37 Jahre alt, ab Anfang 1933 als Kurier (Deckname „August“) für die KPD-Führung eingesetzt, dazu ständiger Begleiter Ernst Thälmanns bis zu dessen Festnahme. Ab Herbst 1933 erhärtet sich der Verdacht, dass Kattner bei verschärften Verhören erst im KZ Sonnenburg, dann in der Gestapo-Zentrale an der Berliner Prinz-Albrecht-Straße „umgedreht“ wurde, bevor er wieder auf freien Fuß kam. Als John Schehr Ende 1933 und Rudolf Schwarz kurz darauf verhaftet wird, sind für die Abwehr der KPD letzte Zweifel beseitigt. Es kann nur Kattner sein, der Deckadressen, Tarnnamen, Geheimcodes und Treffpunkte preisgegeben hat. Man muss handeln, nicht zuletzt das in der Treptower Sternwarte versteckte Parteiarchiv verlagern (was nicht mehr gelingt).Der enzige Fememord der KPDKattner selbst soll in die Sowjetunion ausreisen, sprich: abgeschoben werden. Als das scheitert, macht die illegale Rote Fahne seinen Verrat publik, zugleich fällt die Entscheidung, ihn auszuschalten. Am Vormittag des 1. Februar 1934 wird er in seinem Untermietzimmer in Nowawes (Babelsberg), Husarenstraße 5, von Hans Schwarz im Auftrag des Sicherheitsapparats der Partei erschossen. Die Gestapo verliert einen hochkarätigen Lockspitzel, die NS-Führung einen potenziellen Kronzeugen für den geplanten „Hochverratsprozess“ gegen Thälmann, auch wenn sich Anfang 1934 bereits abzeichnet, dass dieses Tribunal nach dem Debakel des Reichstagsbrandprozesses – dem Freispruch für Georgi Dimitroff und andere Angeklagte – vorerst entfallen dürfte.Um den Fememord von Nowawes, den einzigen der KPD in zwölf Jahren NS-Diktatur, zu rechtfertigen, wird das Gerücht gestreut, Kattner trage die Schuld an der Verhaftung Thälmanns am 3. März 1933. Er habe Hinweise auf dessen Berliner Quartier der Polizei zugespielt, was – wie sich nach 1945 herausstellt – nicht stimmt. Umso mehr bezeugt der „Fall Kattner“, wie schwer es der Partei zu jener Zeit fällt, bei allem Heroismus und Opfermut so vieler Kommunisten dem Staatsterror der Nazis nicht überaus wehrlos ausgeliefert zu sein. Die KPD-Führung scheint zwar wie vom Erdboden verschwunden, bleibt aber letzten Endes doch auffindbar.Jagdhaus HorridoGewiss hat es vor Hitlers Kanzlerschaft keinerlei Illusionen gegeben, worauf man gefasst sein muss. Ausreichend vorbereitet sind 1933 jedoch weder das Politbüro noch der Abwehrapparat oder die Bezirksleitungen, geschweige denn die Mitglieder. Unterschätzt werden das Integrationsvermögen der NS-Ideologie und die Macht vollendeter Tatsachen, für die eine von der NSDAP geführte Reichsregierung umgehend sorgt. Willfährig und auffallend umstandslos lassen sich Polizei, Justiz und sonstige Instanzen der siechen Republik für den Marsch in die Diktatur vereinnahmen. Überschätzt haben die Kommunisten den Willen und die Kraft zum Widerstand in der Arbeiterschaft. Kaum anders ergeht es der SPD, die allen Ernstes glaubt, Staatsterror mit Verfassungstreue begegnen zu können.Eine Tagung des KPD-Zentralkomitees am 7. Februar 1933 im Sportlokal Ziegenhals südöstlich von Berlin folgt bereits konspirativen Regeln und wird vorzeitig beendet. Um den Tagungsort platzierte Posten melden Polizeipatrouillen im angrenzenden Wernsdorfer Forst. Thälmann bricht seine Rede ab, eine Diskussion entfällt, alle zerstreuen sich – es hat etwas von Flucht, als das Ausflugsschiff „Charlotte“ Teilnehmer über den Krossinsee bringt. Herbert Wehner (Deckname „Funk“), seinerzeit als Sekretär des Politbüros mit der Sicherheit Thälmanns betraut, will diesen bewegen, in eines der sechs für ihn bereitgehaltenen illegalen Quartiere zu wechseln. Am besten in das Jagdhaus Horrido bei Märkisch Buchholz, weitab vom Schuss. Thälmann soll auf die Rückkehr nach Berlin-Charlottenburg verzichten, die Wohnung von Martha und Hans Kluczynski, Lützower Straße 9, meiden. Dieses Stadtquartier ist allzu vielen in der Partei bekannt, weil der KPD-Führer in diesen vier Wänden schon vor dem 30. Januar 1933 hin und wieder unterkam. Um besser geschützt zu sein, wäre Märkisch Buchholz von Vorteil, um aktionsfähig zu bleiben, eher nicht.Für Thälmann zählt allein das, als er beschließt, in der Reichshauptstadt die für den 5. März anberaumten Reichstagswahlen abzuwarten, bei denen die KPD (noch) zugelassen ist. Was ihn umtreibt, sind zudem Nachrichten aus Moskau. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) vertritt die Auffassung, dass mit Hitler an der Macht in Deutschland „eine revolutionäre Situation“ entstanden sei. Nunmehr brauche es eine schlagkräftige proletarische Aktionseinheit, um die vermeintliche Gunst der Stunde zu nutzen. Die von der KPD bis dahin propagierte „Einheitsfront von unten“ reiche nicht mehr aus, jetzt müsse es die „von oben“ geben, inklusive der SPD und ihres Vorstands. Es kündigt sich ein Kurswechsel an, wie ihn die Kommunistische Internationale bei ihrem VII. Weltkongress 1935 in Moskau mit der Parole „Volksfront“ bestätigen wird.Thälmanns Ausharren im Notquartier gerät zum Wagnis sondergleichen, als nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar auch gegen ihn Haftbefehl ergeht. Wie zu befürchten, werden Zuträger bei der Polizei vorstellig, unter anderem Hermann Hilliges, Gartennachbar der Kluczynskis in der Gatower Kolonie „Havelblick“. Er habe Thälmann mehrfach in der Lützower Straße gesehen, hinterlegt der im Spandauer Revier 144, das am 1. März 1933 den Charlottenburger Polizeiabschnitt 121 einschaltet, wo man erst zögert, zwei Tage später jedoch zur Tat schreitet, um Thälmann und zwei seiner Mitarbeiter in der Kluczynski-Wohnung zu verhaften. Als dort am Abend Alfred Kattner mit Geld und Kurierpost auftaucht, wird er gleichfalls festgenommen.Peitschenhiebe, Stockschläge, das Ausreißen von Fingernägeln, ein mit dem Wasserschlauch aufgepumpter Darm – das konnten die Foltermethoden eines verschärften Verhörs bei der Gestapo sein. Oft reichte es, sie anzudrohen, um einen Gefangenen zu brechen. Wie es bei Alfred Kattner war, wenn er in die Prinz-Albrecht-Straße geholt wurde, ist nicht überliefert.
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