Grunewald 1913: Im „Deutschen Stadion“ gibt es den Probelauf für Olympia
Zeitgeschichte Als sich die Zeichen eines kommenden Krieges verdichten, hält es IOC-Präsident Pierre de Coubertin für ratsam, einen geltungshungrigen und mächtigen Staat im Herzen Europas als olympischen Friedensstifter zu verpflichten
Frühjahrslauf des Verbands der Berliner Athletik an der „Stätte des edlen Mannesruhmes“, Berlin-Grunewald, 22. März 1914
Foto: Häckel Archiv/Ullstein/dpa
Als würden die Weihrauchgefäße erzpatriotischer Priester bei jeder sich bietenden Gelegenheit geschwenkt, um die Sinne zu benebeln. Völkisches Pathos ist der ideologische Firnis, als sich das kaiserliche Deutschland ab 1912 dafür präpariert, vier Jahre später Ausrichter olympischer Wettkämpfe zu sein. Eine Generation, „kriegskühn und vaterlandsliebend“, werde sich „dem Kampf stellen, keinen Gegner der Welt scheuend“, blickt Carl Diem voraus, Generalsekretär für die Spiele 1916, und bedient den Sound des chauvinistischen Übermuts.
Seit der Renaissance von Athen im Jahr 1896 gab es für Olympia die Austragungsorte Paris (1900), St. Louis (1904), London (1908) und Stockholm (1912). Nun aber, für den So
2;r den Sommer 1916, ist Deutschland als Veranstalter einer „VI. Olympiade“ ausersehen, wie das Ereignis seinerzeit genannt wird. Das Kaiserreich will endlich gebeten sein, um für sich und den „deutschen Sport“ Ehre einzulegen.Als die Entscheidung am 4. Juli 1912 in Stockholm fällt, zwei Tage vor Beginn der dortigen Spiele, sind im Internationalen Olympischen Komitee (IOC) nennenswerte Widerstände verstummt, dazu Mitbewerber wie Alexandria, Brüssel, Amsterdam oder Budapest ausgebootet. Letztlich gibt die Fürsprache von Baron Pierre de Coubertin den Ausschlag. Als sich die Zeichen eines kommenden Krieges häufen, hält es der IOC-Präsident für ratsam, einen geltungshungrigen und mächtigen Staat im Herzen Europas als olympischen Friedensstifter zu verpflichten. Der hat angekündigt, mit einem „Deutschen Stadion“ zu Berlin eine Wettkampfstätte anzubieten, die man sich nicht von der Stange holt. Sie soll durch praktische Modernität und architektonische Eleganz übertreffen, was bis dahin üblich war. In Aussicht steht – als Vision und Versprechen – eine Arena der vielen Schauplätze und parallelen Wettkämpfe. Zunächst allerdings kommen außer Berlin auch andere Orte in Betracht. Schließlich soll Olympia 1916 einen gewissen „furor teutonicus“ nicht schuldig bleiben. Rüdesheim am Rhein gerät in die engere Wahl für eine „Nationalfeststätte“. Sie läge im Dunstkreis des Niederwald-Denkmals und seiner martialischen Germania in Bronze, mit der die Reichsgründung von 1871 und die „Wacht am Rhein“ beschworen werden. Gleichsam reizt die Vorstellung – beflügelt von der 100. Wiederkehr des Ereignisses –, Olympia rings um das Leipziger Völkerschlachtdenkmal zu zelebrieren. Allein, der Bezug zum Sieg über Napoleon 1813 wäre ein Affront gegenüber einer französischen Equipe und daher gewagt. Standorte wie diese verlieren sofort an Zugkraft, als Wilhelm II. den Wunsch streuen lässt, man möge der Reichshauptstadt olympischen Glanz verschaffen. Der Entschluss für den Bau eines „Deutschen Stadions“ im Grunewald ist gänzlich unwiderruflich, als der Kaiser einige Hektar seines dortigen Jagdreviers spendiert.Da die für den Sommer 1913 vorgesehene Stadionweihe in das Jahr von Wilhelms 25. Thronjubiläum fällt, nimmt sich der Deutsche Reichsausschuss für Olympische Spiele (DRAfOS), geführt von Husaren-General Victor von Podbielski, des Vorhabens entschlossen an. Für das erst einmal niemand zahlen will. Baukredite brauchen Zinsgarantien, am besten von der öffentlichen Hand. Preußen gedenkt sie nur dann zu übernehmen, wenn zugleich das Reich einspringt. Der Magistrat von Berlin winkt ab, solange sich die zu jener Zeit noch selbstständigen Kommunen Charlottenburg, Wilmersdorf, Spandau und Steglitz zurückhalten. Deutschland droht der Offenbarungseid, Olympia-Ausrichter der großen Worte und leeren Kassen zu sein.Um eine Blamage zu vermeiden, springt der „Union-Klub“ ein und offeriert eine Bürgschaft für 2,25 Millionen Goldmark (nach Kaufkraftäquivalenten heute 15 Millionen Euro). Umgehend werden Preußen und das Reich freigiebiger und verkünden, für Kredite von je 40.000 Goldmark zu bürgen. Was hat es mit diesem „Klub“ auf sich? Seit 1867 residiert der in Berlin als blaublütiger Schirmherr des deutschen Turfsports – eine feudale Loge der Oberschicht, deren Mitgliedsbeiträge Vorsorge dafür treffen, dass es so bleibt. Wie schon beim Reichsausschuss DRAfOS, dessen Präsident von Podbielski zugleich Vizepräsident des „Union-Klubs“ ist, gibt sich Olympia als Projekt der aristokratischen Elite zu erkennen. Unter ihre nie erlahmende, staatstragende Ambition fällt nun also die Finanzierung eines „Deutschen Stadions“. Und Union-Vorstand Hans Heinrich XV. Fürst von Pless genießt das Privileg, als einer der Ersten die Entwürfe für das olympische Amphitheater im Grunewald begutachten zu können. Vorgelegt hat sie der Architekt Otto March, der am 1. April 1913 stirbt und die Einweihung nach nur 200 Tagen Bauzeit nicht mehr erleben wird.March denkt an ein Ensemble der integrierten Anlagen für Fußball, Schwimmen, Leichtathletik, Boxen, Ringen, Radrennen und Radpolo. Einen Rasenplatz, 110 Meter lang und 70 Meter breit, umschließt eine 600 Meter lange Aschenbahn mit 100-Meter-Sprint-Strecke, flankiert vom Schwimmbecken mit 100-Meter-Bahn und von einem Oval für die Radsportler, mit einer Weltneuheit – den auf 4,40 Meter erhöhten Kurven. Passagen im Tunnel erleichtern das Flanieren auf dem Olympiagelände, unterwegs zu Ringern oder Boxern, deren Fäuste damals noch mit ledernen, von Metallstreifen durchzogenen Riemen umschnürt sind. An der Südseite des „Deutschen Stadions“ thront als Pompejanische Villa der Kaiserpavillon, umgeben von 2.208 Logen-, 12.240 Sitz- und 12.470 Stehplätzen, sodass fast 30.000 Zuschauer Aufnahme finden. Gerahmt wird die „Stätte des edlen Mannesruhmes“ (Carl Diem) vom heroisierenden Ambiente anlasstreuer Skulpturen wie Der Sandalenbinder des Bildhauers Ludwig Cauer, Georg Kolbes Der Leichtathlet oder Der Schwimmer von August Kraus.Dieser Bau sei „eine Bürgschaft für nie versiegende Lebensstärke“, heißt es in der Festschrift zum Tag der Stadionweihe am 8. Juni 1913. Solange man sich dieser Stärke versichere, werde „die Geschichte vom Niedergang des deutschen Volkes nichts zu melden wissen“. Zur Eröffnung marschieren Fahnengruppen mit mehrfachem „Kaiserhoch“ auf den Lippen über die Aschenbahn, angeführt von Turnern des Jungdeutschland-Bundes, der sich seit seiner Gründung 1911 „der Wiedererstarkung kommender Geschlechter“ verschreibt, „hoffend auf Deutschlands ruhmvolle Zukunft und Größe“. Der Bund habe, so sein Statut, „die Jugend zu regelmäßig betriebenen Leibesübungen und Wanderungen durch die Natur“ heranzuziehen, sprich: als Pfadfinder-Romantik verbrämte Wehrertüchtigung zu betreiben. Pierre de Coubertin könnte sich verrechnet haben mit diesem Veranstalter, der dank Olympia der Welt ein „Deutschland, Deutschland über alles“ vorzuführen wünscht. Aufhalten lässt sich nichts mehr.Am 5. Oktober 1913 ruft von Podbielskis Reichsausschuss unter azurblauem Himmel und auf sonnenüberstrahlter Rennbahn zum olympischen Probelauf. Veranstaltet wird ein Sportfest „mit Läufen über kurze und lange Strecken, Stafettenlauf, Diskus- und Speerwerfen, Stabhochsprung und Hochsprung“, heißt es in der Einladung. „Bisher forderten wir das Stadion, jetzt fordert das Stadion uns“, deklamiert Carl Diem. „Die Jugend, der heilige Frühling Deutschlands, strömt aus allen Gauen zusammen“ und handle „im frohen Gefühl ihrer Vaterlandsliebe“.Chlorkalk für die TotenAm 6. Juli 1912 hatte Schwedens König Gustav V. die V. Olympiade in Stockholm eröffnet, etwa um die gleiche Zeit vier Jahre später sollte das Wilhelm II. zufallen. Die Berliner Spiele sind noch nicht verbindlich terminiert, als Anfang August 1914 deutsche Truppen in Belgien einfallen und ein Weltkrieg beginnt. Das IOC zögert, die VI. Olympiade umgehend abzusagen, und ergibt sich der irrigen Hoffnung, sie könne stattfinden, käme es nur zu einem schnellen Frieden. Und dann wird als Olympionike antreten, wer eben noch mit dem Bajonett fremdes Leben zerstochen hat?Am 6. Juli 1916 ist die Schlacht an der Somme in vollem Gange. Nach einer französisch-englischen Großoffensive, die scheitert, türmen sich die Leichen vor den deutschen Gräben. Eilig werden die Toten mit Chlorkalk bestreut, sie zu bergen, geschweige denn zu bestatten, ist wegen der auf beiden Seiten unablässig feuernden Artillerie unmöglich.Die „Stätten edlen Mannesruhmes“ im „Deutschen Stadion“, an denen „kriegskühn und vaterlandsliebend“ und „keinen Gegner der Welt scheuend“ um olympischen Lorbeer gerungen werden sollte, sind verwaist. Auf den Tribünen wächst das Gras.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.