Heilsame Trägheit

Europa 2018 wird die EU von großen Ideen aufgepeitscht. Ob sie darauf anspringt, steht auf einem anderen Blatt
Ausgabe 01/2018
Mercron haben viel vor mit Europa. Nur können sie es auch umsetzen?
Mercron haben viel vor mit Europa. Nur können sie es auch umsetzen?

Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung/Getty Images

Eine Figur balanciert auf dem Hochseil, unter ihr liegt, durch ein Gewirr von Strichen angedeutet, der Eiffelturm. Der Komet von Paris hat Paul Klee seine Zeichnung von 1918 genannt und einen Seiltänzer abgebildet, der zwischen den Welten – einem weiten Himmel der Ideen und dem Abgrund der Realitäten – zu schweben scheint. Damals galt das Werk als Sinnbild für die Suche nach neuem Lebensmut, seit der Erste Weltkrieg die Zivilisation der Barbarei geopfert hatte. Der „Komet“ konnte abstürzen oder emporsteigen.

Wollte jemand darin ein Gleichnis für den derzeitigen Zustand der Europäischen Union sehen, wäre das alles andere als verstiegen. Die Fallgesetze ziehen sie nach unten – ein lichter Horizont der Visionen und Verheißungen breitet sich ebenfalls aus. Es ist ein „Kometenjahr“, aus dem die EU kommt, und es sind „Kometenjahre“, die ihr bevorstehen. Schließlich war der Staatenbund trotz aller Erosionen 2017 großen Plänen ausgesetzt, denkt man nur an die Sorbonne-Rede Emmanuel Macrons vom 26. September, die sich mit „EU total“ überschreiben ließe. Leider fand sich seine Idee von der „Neugründung Europas“ umgehend konterkariert, als man sich in Brüssel als unwillig oder unfähig (oder beides) erwies, den Zwist um Katalonien, wenn nicht zu entschärfen, so doch wenigstens zu moderieren. Ohnehin gebricht es Macrons ideellem Tableau an Hinweisen, wie mit inneren Konflikten von Mitgliedsstaaten umzugehen ist, denen sich die EU stellen muss, wenn sie überleben will. Nicht auszuschließen, dass Macrons Diktum der „Erneuerung“ als zu wenig lebenstauglich im europäischen Mahlstrom untergeht. Sein Rückgriff auf eine massierte Integration verschafft dem vereinten Europa noch keine Zukunftsgarantie. Im Gegenteil, die Trägheitsmomente dieser Allianz sind kaum zu unterschätzen und nicht per se von Nachteil. Wer mit einem allzu forschen Innovationswillen das „Europa der 27“ fordert, kann es überfordern, werden dadurch Skepsis und Abwehr in Osteuropa über Gebühr angefacht.

Macron will den Zentralstaat

Und überhaupt, welche Staatenassoziation will Macron? Seine Vorstellungen über den Finanzminister und einen eigenen Haushalt der Eurozone sind häufig zitiert worden, ebenso die europäische Eingreiftruppe, das gemeinsame Verteidigungsbudget und die Doktrin für Auslandseinsätze. Weniger ins Blickfeld gerieten die von Macron gewünschte europäische Staatsanwaltschaft für den Antiterrorkampf, die einheitliche Asylbehörde, eine europäische Grenzpolizei wie eine Akademie für Geheimdienste, dazu eine EU-Angleichung der Mindestlöhne und eine für alle gleiche Kohlendioxidsteuer. Die Vermutung liegt nahe, dass Frankreichs Präsident mit seinem Masterplan den eigenen Zentralstaat auf Europa zu übertragen gedenkt. Sein Tableau erinnert an die um das Jahr 2000 herum beschworene Finalität einer EU, die vom Staatenbund zum europäischen Bundesstaat mutiert. Der bald darauf misslungene Versuch, einen europäischen Verfassungsvertrag zu besiegeln, sollte zur Vorsicht mahnen. Die dekretierte Europäisierung nationaler Staaten hat ausgedient.

Im Übrigen dürfte klar sein: Wenn in Deutschland ein halbes Jahr verbraucht wird, um eine neue Bundesregierung zu bilden, ist absehbar, wann Macrons Ideen-Ensemble ernsthaft evaluiert wird. Allein das in Paris favorisierte Eurozonen-Budget von „mehreren Prozentpunkten der Wirtschaftsleistung der Eurostaaten“ wird in Berlin keine Euphorie auslösen.

Wirklich vereint sind Deutschland und Frankreich allein in der Absicht, die EU mit mehr globaler Gestaltungsmacht auszustatten, um sich dem Unilateralismus eines Donald Trump entgegenzuwerfen. Nur wird das Projekt „EU imperial“ nicht eben durch Erfolgsaussichten verwöhnt. Offenbar im Bewusstsein dieses Makels hat Außenminister Gabriel in einer Grundsatzrede Anfang Dezember auf drastische Formulierungen zurückgegriffen: „Nur wenn die EU ihre eigenen Interessen definiert und auch ihre Macht projiziert, kann sie auch überleben“, hieß es.

Da sich mit dem nunmehr nationalkonservativ regierten Österreich in der EU ein Partner für die EU-Dissidenten der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) anbietet, kann nur Paris der Adressat von Gabriels dramatischem Appell gewesen sein. Demnach dürften sich 2018 Schnittmengen zwischen Frankreich und Deutschland weniger aus dem Reformbedarf der EU als aus dem Wunsch nach mehr weltpolitischer Gewichtigkeit ergeben. Aber Achtung: Frankreich will dank der EU Anschluss an Deutschland halten – Deutschland Anschluss an die Welt.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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