Hunderte von Luftballons

Terror Es erscheint sinnlos, nach einem Halt zu suchen angesichts der Bilder vom Anschlag in St. Petersburg. Sie haben ja den Zweck, jeden Halt zu nehmen
Wenn Trauer zum Zeichen der Ohnmacht wird
Wenn Trauer zum Zeichen der Ohnmacht wird

Bild: Imago

Am Wochenende kam die Nachricht, dass der russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko in seiner US-Wahlheimat Oklahoma gestorben ist. Wer die Sowjetunion und das heutige Russland verstehen und nicht erziehen will, kennt vielleicht eines seiner Gedichte – etwa das berühmte Meinst du, die Russen wollen Krieg und Babi Jar oder seine Autobiographie Stirb nicht vor deiner Zeit.

In der DDR erschien 1984 beim Verlag Volk und Welt sein Roman Beerenreiche Gegenden. Darin lässt Jewtuschenko in einem der Fabel vorangestellten „Epilog“ einen sowjetischen Kosmonauten auf die Erde schauen und das lichterflimmernde Paris wie „eine Handvoll verstreutes Gold auf schwarzem Samt“ bewundern, in gleicher Weise London und Kopenhagen. Von seiner Faszination gefangen, erinnert sich der Beobachter an das Gesicht Juri Gagarins, der als erster Mensch das Lächeln der Erde in den Kosmos trug und später meinte, auf seinem Flug begriffen zu haben, wie verletzlich dieser Planet doch wirke. Er sei dem Weltall schutzlos ausgeliefert und sollte um seiner selbst willen bemüht sein, eigener selbstzerstörerischer Obsession zu entgehen.

Frieden zu halten, sei doch eine existenzielle Norm, zitiert Jewtuschenko seinen imaginären Gagarin. Egal, wer auch immer danach trachte, sie zu brechen.

Absurde Vorstellung

Die 70er Jahre und heute, die Zeiten reiben sich aneinander, als wollten sie nichts miteinander zu tun haben, sich stattdessen lieber aus dem Weg räumen. Was Jewtuschenko vor mehr als vier Jahrzehnten für geboten hielt, erscheint derzeit wie eine absurde, alberne Vorstellung, derer sich Zyniker gewiss gern bemächtigen, um die Einfalt solcher Dichter zu geißeln.

Wozu die Erde schonen, wo sie doch schon so viel ausgehalten hat? Wenn sich tödlicher Wahn Geltung verschafft, wird sie das verkraften wie zuvor schon Schlimmeres.

Sie wird, aber kann sie auch?

Was zählen Menschenleben, wenn dem Terror eine ganze Menschenwelt offen steht, aus der zu bedienen sich lohnt? Und das immer wieder. Jewtuschenkos „verstreutes Gold“, das seinen Kosmonaut berauscht, kann einem Perron der Toten in der Petersburger Metro nichts anhaben. Russland wird seit den 90er Jahren so häufig und unerbittlich von terroristischer Gewalt heimgesucht wie kein anderes Land in Europa. Die Täter sind tschetschenische Freischärler, nordkaukasische Islamisten, auch fanatische Rechtsextremisten.

Sie handeln mit einer mörderischen Inbrunst, die weder Rücksicht noch Gnade kennt. Es wurde ein Hospital in Budjonnowsk überfallen, ein Wohnhaus in Moskau gesprengt, Ende 2002 das hauptstädtische Musical-Theater Dubrowka gestürmt und die Metro im Moskauer Zentrum ins Visier genommen, zuletzt im Oktober 2010.

Von Rachegefühlen übermannt

Und wer erinnert sich noch der Bilder aus dem nordossetischen Beslan? Die sind längst verblasst, von anderen Eindrücken überlagert und verschüttet, die ähnliches Entsetzen hinterließen, aber den Vorteil haben, jüngeren Datums zu sein. Am 1. September 2004 sollte es in der Kleinstadt am Kaukasus wie üblich den Einschulungstag geben. Schleierwolken kündigten an jenem von Sonne überfluteten Morgen schon den Herbst an, als das Grauen in die Reihen wartender Erstklässler und ihrer Eltern fuhr. Ein Terrorkommando überfiel das Schulfest, als gerade Hunderte von Luftballons in den Himmel stiegen.

Tage später saßen Mütter an Gräbern, und Väter wurden von einem Rachegefühl übermannt, gegen das keine Trauer ankam. Das Inferno von Beslan hinterließ 332 Tote, davon 176 Kindern, gestorben als Geiseln der Terroristen und Opfer dilettantischer Befreier.

Einen Massenmord in diesem Ausmaß gab es – bisher – kein zweites Mal. Aber was sagt das schon, wenn in St. Petersburg das Inferno eines Augenblicks Menschen entschwinden lässt, deren Herz eben noch schlug? Es ist sinnlos nach einem Halt zu suchen angesichts dieser endgültigen Bilder. Sie haben ja den Zweck, jeden Halt zu nehmen. Sie zermürben den Betrachter und nehmen ihm die Gewissheit, ihr Strom könnte jemals versiegen und einer anderen "Normalität" weichen.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden