Ein Mensch verschwindet, ohne einen letzten Schatten zu werfen. Der 31-jährige Felix Hartlaub wird Anfang Mai 1945 in die Schlacht befohlen, als das Tausendjährige Reich letzte Bastionen halten und Berlin nicht preisgeben will. In der Spandauer Zitadelle an der Havel harren SS-Verbände aus, denen Wehrmachtseinheiten aus der nahe gelegenen Von-Seeckt-Kaserne beistehen sollen. Dort hat sich der Stabsgefreite Hartlaub einzufinden, dort kommt er nie an. Auch finden wird man nichts mehr von ihm. Keine Erkennungsmarke, kein halb verbranntes Soldbuch, keinen eilends verscharrten Leichnam, weder bei den Splittergräben an der Heerstraße noch irgendwo sonst im Südwesten der Reichshauptstadt. Da geht einer spurlos verloren. Oder bleibt für immer verborgen unter der
Ukraine 1942: Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier „Werwolf“ bei Winniza
Zeitgeschichte Felix Hartlaub wird 1941 in Hitlers „Wolfsschanze“ in Ostpreußen, danach in den Befehlsstand „Werwolf“ in der Südukraine versetzt und verfasst dort die „Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier“. Über ein fast vergessenes Zeitdokument
Lutz Herden
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Dem „Kriegstagebuch“ entkommen – Felix Hartlaub sucht Entspannung im Führerhauptquartier „Wehrwolf“
Foto: DLA-Marbach
er Tarnkappe, die er zeit seines kurzen Lebens zu tragen schien.1955 offiziell für tot erklärt, wird der einst angehende zu einem gewesenen Schriftsteller. Einer, der kein gedrucktes Werk hinterlässt, umso mehr einen üppigen Nachlass an Novellen, Kurzgeschichten, Stückfragmenten, tagebuchartigen Skizzen, Naturstudien und Essays, aus denen nach dem Krieg ein Werk hätte werden können. Es gibt in der deutschen Literatur Mitte des 20. Jahrhunderts kaum ein vergleichbares Beispiel für einen Autor, der so viel schreibt und dem es zu Lebzeiten nicht gegeben ist, wenigstens etwas davon zu veröffentlichen. Das Fragment wird zur Form eines literarischen Seins, mit dem Hartlaub Zeugnis ablegt über sich und eine Zeit, in der ihn häufig das Gefühl überkommt, „gar nicht zu leben, sondern nur zu parieren und zu funktionieren“. Seit Mai 1945 ist daran kein Rütteln mehr. Im September 1939 zur Wehrmacht eingezogen, bleibt Hartlaub der vorderste Graben erspart. Die Expertise des promovierten Historikers und eine Empfehlung der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität erweisen sich als hilfreich. Ende 1940 wird er von der „Historischen Archivkommission“ des Auswärtigen Amtes dafür reklamiert, sich am Projekt „Kriegsaufzeichungen aus dem besetzten Paris“ zu beteiligen, sprich: Aktenbestände französischer Ministerien zu durchforsten, die mit dem deutschen Einmarsch beschlagnahmt wurden. Diese Auszeit vom Kämpfen im Krieg dauert zunächst neun Monate. Daraus werden Jahre, als Hartlaub Ende 1941 in die Abteilung „Kriegstagebuch“ beim Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in Berlin versetzt wird. Im Mai 1942 führt ihn der Marschbefehl unter die Tarnnetze begrünter Baracken und Bunker in den Führerhauptquartieren „Wolfsschanze“ in Ostpreußen und „Werwolf“ in der Südukraine. Über seinen Schreibtisch gehen nun täglich Aufmarsch- und Schlachtpläne, Führerbefehle, Frontberichte, die Protokolle von Lagebesprechungen oder – wie er es selbst formuliert – „das Allerheiligste der obersten Führung“.Hitler will ein Kriegstagebuch, das der Nachwelt Auskunft gibt über sein Feldherrngeschick. Alle 14 Tage ist ein 60- bis 80-Seiten-Kompendium fällig. „Der Ablauf der Kriegsereignisse und das Bewusstsein, in eine märchenhaft günstige Beobachterposition hineingetorkelt zu sein, füllt mich im Grund ziemlich randvoll aus“, schreibt Hartlaub seiner Stiefmutter Erika Hartlaub. „Das Menschliche“ komme dabei weitgehend zum Erliegen, es töne „kläglich aus der Ferne“. „Ein wenig Lachen“Um der Stupidität eines Alltags zwischen Schreibfron und Stacheldraht zu entkommen, verfasst der Chronist des Führers – literarisch ambitioniert und episodisch reizvoll bis überladen – Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier. Zwar ist ihm im Objekt „Werwolf“ als niederem Dienstgrad der Zutritt zum inneren Sperrkreis verwehrt, doch kann er jenseits der Schlagbäume Fühlung nehmen mit dem Leben in der besetzten, geplünderten, sich selbst überlassenen Südukraine.Wer die Anlage „Werwolf“ verlässt, erreicht nach 20 Minuten Fußweg das Dorf Strishawka. Hartlaubs Exkursionen in diese Gegend führen zu gestochen scharfen Szenen und Skizzen, mit denen er sich als Schreiber des Auges und Meister der detailversessenen Beobachtung offenbart. Er sieht Frauen und Kinder durch sonnengetränkte Landschaften ziehen, hört das Rauschen der Sensen in flirrender Hitze und den Gesang gegen Abend, wenn „die Sonne klein“ und die „Tiefe des Himmels von feinem glänzenden Dunst erfüllt“ ist. Er lässt Soldaten auftauchen, wenn das Wachpersonal aus Hitlers Bunker-Lager Ausgang hat. „Ein wenig Lachen und Hälsedrehen“ – „nach kleinen Soldaten-Witwen mit mürben Armen und Schultern“.Bald scheint der Schreiber zu fürchten, dass es mit seinem pastoralen Bilderbogen des Guten zu viel sein könnte jenseits von Flak- und Geschützstellungen. Er entdeckt „Schweiß und Staub in Gesichtern und Nacken“. „Lauter meist junge Frauen, die das Korn mit schmalen Sicheln schneiden, alle tief gebückt, barfüßig … ein einzelner hagerer, graubärtiger Mann, der kaum mitkommt, die angebotene Zigarette ablehnt. Stumm, verbissen stichelnde Alte.“ Unter einer Brücke erinnern umgestürzte, ausgebrannte Fahrzeuge daran, dass die Kriegsfurie vorbeikam und weiterzog. Zwischen den Wracks im Fluss baden Halbwüchsige, „deren Blicke ohne Wimpernschlag an den Landsern hängen“. Hartlaub weiß und lässt es nicht aus, dass Hunderte von Frauen aus Dörfern wie Strishawka nach Rumänien fliehen, als das Gerücht umgeht, dass „sie heim ins Reich befördert werden sollten“. Das Dilemma des Intellektuellen Felix HartlaubEnde 1942, zurück in der „Wolfsschanze“, vermerkt er, die Monate in der Ukraine „gehen noch mächtig in mir um“. Dass er die Landessprache nicht beherrscht habe, sei ein „unmöglicher, unerträglicher Zustand“ gewesen. Ob er die Menschen dort andernfalls nicht als halbwilde Kreaturen geschildert hätte, wie das zuweilen geschieht? Ihn erschüttern „Verstumpfung und menschliche Verkümmerung“, die kaum zu überbieten seien. „Keinen heilen Fetzen am Leib, den Weibern hingen die Titten raus.“ Hartlaub ist kein Herrenmensch, der vom Hochstand chauvinistischer Anmaßung aus auf die Einheimischen schaut. Nur lasse ihm „die perverse Interessiertheit des Literaten“ keine Wahl, als sich genau umzusehen. Dabei fällt dem Beobachter auf, wie sehr sich nicht nur „die Heimat“ an Lebensmitteln aus der Ukraine gesundstößt. Das Führerhauptquartier ebenso. Wodka, Gänse und Enten, Mohn- und Leinöl, dazu große Zwiebelzöpfe, wandern in die schweren Persil- und Margarinekartons, die ein Obergefreiter jeden Tag füllt und zustellt. Bezahlt wird nicht, wie Hartlaub feststellt, es wird getauscht. Ein Major bringt eine „Handvoll alte Damenwäsche“, das Telefonfräulein aus dem OKW „das abgetragene Dirndlkleid“, wofür ukrainische Eier gewünscht sind. Mit Ein Wirtschaftspionier hat Hartlaub das Kapitel überschrieben.Schwer zu sagen, ob die Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier in der Annahme entstehen, dass sie jemals veröffentlicht werden. Dem Autor dürfte klar gewesen sein: wenn überhaupt, dann nach dem Krieg und nicht unabhängig davon, wie der ausgeht. „Nur eine Zeit, in der die jetzigen Eindrücke irgendwie sagbar werden, könnte mir wirklich helfen“, heißt es Mitte 1942 in einem Brief an seinen Vater. „Dass ich mich im Übrigen … durch eigene Schuld in einem ziemlichen Holz- und Hohlweg befinde, sieht mir hier jeder Dorfköter an der Nasenspitze an.“ Worauf spielt er an? Die zuvor oft beklagte Schreibhemmung kann es nicht sein. Sie ist überwunden, seit es ihn in die Ukraine verschlagen hat. Schreiben wird zum Refugium für einen geistig erschöpften, vereinsamten Menschen, den das ameisenhafte Zusammentragen von Kriegspartikeln langsam, aber sicher zermürbt.In der Ungewissheit darüber, ob tatsächlich mit einer Zeit zu rechnen ist, in der „irgendwie sagbar“ wird, was gesagt werden muss, besteht das Dilemma von Intellektuellen wie Hartlaub, die auf Anpassung abonniert sind und darunter leiden, wie Domestiken behandelt zu werden. Als 23-jähriger Student der Geschichte und Romanistik in Heidelberg konstatiert er 1936: „Entweder ist man drinnen in der Bewegung, dann gibt es viele Lebensmöglichkeiten, oder man ist eben in jeder Hinsicht isoliert.“ Dieses Entweder-oder hat ihn in keine innere Emigration getrieben. Mehr als drei Jahre im Dunstkreis Hitlers ließen das vermutlich nicht zu. Umso mehr mag es Hartlaub ein Trost gewesen sein, durch den authentischen Kanon seiner Aufzeichnungen eine Form der Bewältigung gefunden zu haben. Für sich selbst, für seine Leser, falls es die eines Tages geben sollte.„Der Kontakt mit der eigentlichen Wirklichkeit, mit dem Leib und Hauch der Dinge fehlt – man sieht alles nur durch das Medium der Akten“, schreibt er einmal an seine Freundin Melita Laenebach. Was sich gewiss ändern würde, „wenn ich tiefer in der Wirklichkeit des Krieges drin wäre“. Womit Felix Hartlaub auf schaurige Weise recht haben soll, wie sein tragisches Ende Anfang Mai 1945 zeigt. Ihm wurde für immer aus der Hand genommen, was er mitbringen konnte für die Zeit nach dem Krieg. Man musste nehmen, was ans Ufer trieb. Vielleicht war es besser so.