US-Studentenprotest: Einst galt er dem Vietnam-Krieg, heute dem Grauen in Gaza
Revolte Die Polarisierung ist weit fortgeschritten. An vielen US-Hochschulen wird gegen die israelische Kriegsführung und die Mitverantwortung der US-Regierungen mobilisiert. Erinnerungen zum April 1968 werden wach und Parallelen erkennbar
Nemat Shafik, Präsidentin der Columbia Universität in New York, musste sich am 19. April gar zu einer Anhörung im US-Kongress einfinden. Die republikanische Abgeordnete Elisa Stefanik warf ihr vor, an ihrer Hochschule Antisemitismus Vorschub zu leisten. Shafik hatte teils heftigen studentischen Protest gegen den israelischen Krieg in Gaza zunächst geduldet, die Polizei parallel zu ihrem Auftritt ein Zeltlager auf dem Campus geräumt. Ein Teil der daran Beteiligten geriet in Haft – ein Viertel davon soll jüdischer Herkunft sein – und wurde anschließend suspendiert. Ethnische Zugehörigkeit oder religiöses Bekenntnis sind der Konfliktauslöser nicht. Vielmehr ist es die Haltung zum Gaza-Krieg mit seinen inzwischen über 34.000 To
34.000 Toten.Schauplatz ist auch damals die Columbia-UniversitätQuer durch das Land, von Boston, über Washington, Atlanta und Austin bis nach Los Angeles artikuliert sich pro-palästinensischer Protest, größtenteils inspiriert vom Netzwerk „Students for Justice in Palestine“. Aktivisten rufen zu Demonstrationen auf, errichten Zeltstädte und mobilisieren, damit der Universitätsbetrieb bestreikt wird. Die Polarisierung scheint weit fortgeschritten und doch erst am Anfang zu stehen, auch wenn sich bereits abzeichnet, dass die Politik davon – und das im Jahr der Präsidentenwahl – nicht unbeeinflusst bleibt.Unverkennbar ist eine Parallelität der Geschehnisse. Erinnerungen werden wach an das Frühjahr und den Sommer 1968, als an vielen Universitäten der USA der Widerstand gegen den Vietnamkrieg unüberhörbar, unübersehbar, vor allem unerbittlicher wurde. Schauplatz ist auch damals die Columbia-Universität. Ende April 1968 besetzen Studenten mehrere Gebäude auf dem Campus in Manhattan. Eine Woche bleibt das so. Zum ersten Mal in der amerikanischen Geschichte wird der universitäre Lehrbetrieb für längere Zeit blockiert – bis auch da Polizei das Gelände stürmt, hunderte Studenten krankenhausreif prügelt, hunderte verhaftet. Doch hat ihr Beispiel längst Schule gemacht, Kommilitonen in Chicago, Los Angeles, Kansas City, Indianapolis und Philadelphia folgen ihnen.Hintergrund ist die wachsende Zahl in Südvietnam gefallener Amerikaner, die in Leichensäcken heimkehren – besonders aber die Entartung des Krieges. Sie schreitet umso mehr voran, je länger er dauert. Das erregt die Gemüter und erschüttert Gewissen. Das Erschrecken, welches damals von Indochina ausgeht, löst mittlerweile der Gaza-Krieg genauso aus. Kampftruppen wird eine Quote auferlegt, wie viele Leichen sie Tag für Tag zu bringen habenAlle Zivilisten seien als potentielle Feinde anzusehen, so 1968 die Devise des US-Militärs zwischen Mekong-Delta, Saigon und den US-Basen Da Nang oder Khe Sanh in Südvietnam. In umkämpften Regionen liegende Orte werden mit Napalm bombardiert, ganze Dorfgemeinschaften in „strategische Dörfer“ deportiert. Die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konventionen haben ausgedient. Für die US-Armee kommt 1967 mit dem „Phoenix-Programm“ eine perverse Praxis – genannt „Body Count“ – in Gebrauch. Kampftruppen wird eine Quote auferlegt, wie viele Leichen sie Tag für Tag zu bringen haben, egal ob Zivilisten oder „Vietcong“, wie der Gegner genannt wird.Der damalige Verteidigungsminister Robert McNamara regt an, dass Einheiten beim „Body Count“ in einen Wettbewerb um die beste Quote treten. Dabei müsste ihm klar gewesen sein, dass der „Body Count“ nichts sonst als eine Quote für Mord und geeignet ist, die Entartung des Krieges voranzutreiben.Da US-Fernsehkanäle in ihren Direktübertragungen aus Südvietnam die tägliche Todesrate melden, ist dieses makabre Zahlenwerk auch zu Hause bekannt und facht die Proteste der Kriegsgegner an. Das Selbstverständnis der Nation nimmt Schaden, dazu das Wertebewusstsein von Veteranen des Zweiten Weltkrieges, die sich nicht vorstellen wollen, dass Dienst am Vaterland derart pervertiert werden kann.Der ehemalige Justizminister Robert Kennedy schreibt im Frühjahr 1968 – er ist zu dieser Zeit aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat der Demokraten, bis er am 6. Juni 1968 in Los Angeles bei einem Attentat ermordet wird – in einem Artikel, der vielen aus der Seele zu spricht: „Alles fällt auseinander, die Mitte der Gesellschaft hält nicht mehr. Es wird Zeit, den Krieg zu beenden.“Ebenfalls 1968 wird das Territorium Südvietnams in Zonen der Kategorien A, B und C unterteilt. C-Zonen gelten nach dem unter amerikanischer Anleitung von der südvietnamesischen Regierung erlassen „One-Tri-Gesetz“ als Gebiete, in denen bei „Neutralisierungsvorhaben“ sämtliche Bewohner einbezogen sind: Männer, Frauen und Kinder, die mit dem „Feind“ nichts zu tun haben, jedoch unter Verdacht stehen, dass es anders sein kann. Weshalb die „C-Zonen“ im Sprachgebrauch der Army auch „Feuer-Frei-Zonen“ heißen. Während des Gaza-Krieges gibt es sie u. a. dann, wenn Krankenhäuser wie das Al-Shifa-Hospital in Gaza-Stadt von der israelischen Armee gestürmt werden. Ende November 2023 verfügt dieser Klinikkomplex, in dem Menschenleben gerettet werden sollen, über keinen sichern Ort mehr. Von der Leichenhalle abgesehen. Wer hier Zuflucht sucht, weil das eigene Haus zerstört oder nicht mehr sicher ist, steht unter Verdacht, mit dem Feind in Verbindung zu stehen oder ganz einfach der Feind zu sein.Der „Sieg in Reichweite“, damals in Südvietnam, heute in Gaza Und noch eine Analogie zwischen 1968 und 2024, zwischen Südvietnam und Gaza, den USA und Israel fällt auf. Seinerzeit wird die US-Öffentlichkeit mit optimistischen Nachrichten genauso gefüttert, wie das israelische Politiker und Militärs seit Monaten im Blick auf Gaza halten.Präsident Johnson erklärt zum Jahreswechsel 1967/68: „Der Feind wurde Schlacht um Schlacht besiegt. Er glaubt immer noch, dass unser Durchhaltewillen zu brechen ist. Nur da irrt er sich.“ Es gäbe wirklich Licht am Ende des Tunnels. General Westmoreland, Oberkommandierender der US-Truppen in Südvietnam, sekundiert. „Ich erlebe eine Haltung von Zuversicht und Optimismus, und zwar überall im Land. Für mich ist das der strahlendste Beweis, dass wir ständig echte Fortschritte machen.“ Anfang 1968 sind 485.600 US-Soldaten auf den Kriegsschauplatz verlegt, auch dadurch sei „der Sieg in Reichweite“. Doch dann starten die nordvietnamesische Armee und die südvietnamesische Befreiungsfront FLN am 31. Januar 1968 eine Offensive zum Tet-Fest, die zwar mit einer Niederlage endet, aber zugleich offenbart, wie verwundbar die Amerikaner sein und sich dagegen nur unzureichend schützen können.Am 25. Februar 2024 verkündet Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in der Sendung Face the Nation des US-Kanals CBS, der totale Sieg ist unser Ziel, und der totale Sieg ist in Reichweite. Die Militäroffensive auf Rafah sei der Schlüssel für den Sieg im Kampf gegen die Hamas. „Nicht in Monaten, sondern in Wochen, sobald wir mit der Operation beginnen.“ Am 10. März setzt Netanjahu in einem Interview nach: „Wir sind einem Sieg sehr nahe.“ Sobald mit der Militäraktion gegen die Terroristenbataillone in Rafah begonnen werde, sei es nur noch eine Frage von Wochen, „bis die intensive Phase der Kämpfe abgeschlossen ist“. Konkret spricht er von vier bis sechs Wochen. Am 8. April versichert Netanjahu erneut, der vollständige Sieg über die Hamas sei „in greifbarer Nähe“. Am 21. April schließlich verkündet Generalstabschef Herzi Halevi, das Kriegskabinett habe Pläne zur Fortsetzung des Gaza-Krieges gebilligt.Als Kriegsauszeichnungen über den Zaun des Weißen Hauses fliegenWer 1968 und 2024 vergleicht, setzt nichts gleich. Aber Wut und Empörung über den fehlenden Willen oder das Unvermögen der US-Regierung, sich mit allen ihr verfügbaren Mittel für ein Ende des Gaza-Krieges einzusetzen – sie erinnern an die verzweifelte Leidenschaft, die einmal Gegner des Vietnam-Krieges überwältigte und handeln ließ. Besonders an den Universitäten hatte sich ein Gefühlsstau entladen, was bald einem ganzen Land nicht mehr fremd sein sollte. Es war damals, und es ist heute kein linker Bekenntniszwang, der sich Geltung verschafft und als Kulturkampf abgetan werden kann. Die Akteure von 1968 und der Jahre danach waren weder nützliche Idioten des Kommunismus noch anarchistische Chaoten. Die im Frühjahr 2024 sind kein Vortrupp des Antisemitismus oder dschihadistische Extremisten. Wer aufbegehrt, nahm und nimmt Menschenrechte, Humanität und Gerechtigkeit ernst und beim Wort. Der hat sich der Frage verschrieben, was davon übrig sein wird, wenn der Krieg in Gaza einmal zu Ende ist. Und was davon für die Palästinenser überhaupt vorhanden war, als er begann. Als der neue Präsident Richard Nixon 1969, kaum im Amt, anordnete, die US-Truppen nach und nach aus Südvietnam abzuziehen, lag dem nicht allein die Einsicht zugrunde, den Krieg nicht mehr gewinnen zu können. Ausschlaggebend war ebenso der Widerstand an den Universitäten, der auf ein kriegsmüdes, zerrissenes Land überzugreifen begann. In jener Zeit konnten sich dem immer weniger Amerikaner verschließen. Am wenigsten die Rückkehrer aus Vietnam, vor denen manche so gezeichnet und deprimiert waren, dass sie ihre Kriegsauszeichnungen über den Zaun des Weißen Hauses warfen. Es waren diese Bilder der Abkehr, die ein kollektives Bewusstsein nicht mehr abschütteln konnte.
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