Verdammt mutig

EU/Türkei Die EU-Außenminister hätten besser auf jede Erklärung verzichtet, statt Ankara wegen der Syrien-Invasion mit windelweicher Vorsicht anzugehen
Der türkische Präsident treibt die EU gern vor sich her
Der türkische Präsident treibt die EU gern vor sich her

Foto: Adem Altan / AFP - Getty Images

Wer sich gern lächerlich macht, muss sich so verhalten wie zu Wochenbeginn die EU-Außenminister mit ihrem Verbalradikalismus in Sachen Türkei. Es verfällt einer Schimäre, wer annimmt, dass die EU mit ihrer Verurteilung der Invasion in Nordsyrien Ankara beeindruckt oder gar schreckt. Was ist diese Erklärung wert? Solange es zu keinen sofort wirksamen ökonomischen Sanktionen kommt, werden Vormarsch und Okkupation nicht aufzuhalten sein.

Es klingt höchst defensiv, wenn der deutsche Außenminister in Brüssel erklärt, es sei wichtig, „mit der Türkei … im Dialog zu bleiben, um auf sie einwirken zu können“. Diese windelweiche Vorsicht bestätigt nur eines: Nicht die EU setzt Recep Tayyip Erdoğan unter Druck, sondern er die europäische Staatengilde. Vor Tagen hat er den Europäern bei einem öffentlichen Auftritt zugerufen: „Hey EU, mach nur so weiter.“ Was offenbar heißen sollte: Seid euch dessen bewusst, dass wir jederzeit die Schleusen öffnen und euch mit Hunderttausenden von Flüchtlingen fluten können.

Die nächste Schimäre

Es reicht, damit zu drohen, um den EU-Staaten die Konsequenzen vor Augen zu halten, die u.a. darin bestehen dürften, dass in diesem Fall eine Reihe von Mitgliedsländern – Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, womöglich auch Italien und Österreich – vorübergehend die Grenzen schließen, womit eine dramatische Krise der Gemeinschaft unabwendbar wäre. Sie könnte übertreffen, was seit Jahren an zentrifugaler Tendenz zu konstatieren ist. Das alles andere als vereinte Europa lernt gerade – ausgerechnet zum 30. Jahrestag des Mauerfalls –, dass Grenzen nach wie vor zweckbestimmte Einrichtungen sind, von denen durch die dafür zuständigen Staaten situationsgerecht und interessenbezogen Gebrauch gemacht wird. Das grenzenlose Europa ist eben auch eine Schimäre, weil es Idealzustände suggeriert, die längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind.

So können die EU-Außenminister Erdoğans Intervention zwar verurteilen, aufzuhalten vermögen sie nichts. Dafür sind einerseits allein die USA – auch wegen ihrer ökonomischen Interessen in den syrischen Kurdengebieten (Erdöl) – prädestiniert. Andererseits kommen Russland und der syrische Staat in Betracht. Der bietet sich den Kurden als Schutzmacht unter der Bedingung an, dass die mit ihrer regionalen Föderation Rojava in seinen integrativen Verbund zurückfinden und mit einer stark limitierten Autonomie vorlieb nimmt.

Präsident Erdoğan könnte dies als Gewähr dafür gelten lassen, dass vom Projekt Rojava nur soviel bleibt, wie er das wegen der eigenen kurdischen Community und des konfrontativen Umgangs mit der PKK für angebracht hält. Das heißt, die Türkei wünscht angesichts der immer unverkennbareren Vorentscheidung des syrischen Bürgerkrieges im Norden des Landes eine Sicherheitszone zu etablieren. Über deren Bestimmung und Ausmaß wird freilich nicht mit der kurdischen Dachorganisation, Partei der Demokratischen Union (PYD), sondern mit Moskau und Damaskus verhandelt.

Neoosmanische Hybris

In gewisser Weise zeichnet sich damit eine Rückkehr in den März 2011 ab, als die schwelenden innersyrischen Konflikte – von außen befeuert – nicht mehr einzudämmen waren. Die EU hat dazu nach Kräften beigetragen, weil sie auf einen regime change in Damaskus bedacht war. Sie ist damit genauso gescheitert wie die Türkei, nur hat es die seit dem Eingreifen Russland (ab September 2015) sehr viel schneller und besser verstanden, eine den Realitäten angemessene Syrien-Politik zu betreiben. So gab es – erzwungenermaßen – die endgültigen Abkehr von neoosmanischen Visionen, sprich: der angestrebten sunnitischen Autokratie in Damaskus, die sich einer türkischen Regionalmacht unterstellt.

Achteinhalb Jahre später läuft das sich andeutende Szenario auf das Muster hinaus: Die Türkei erhält eine Sicherheitszone, die Regierung in Damaskus wieder die Kontrolle über die Kurdengebiete wie bis 2011 üblich. Der inneren Befriedigung Syriens, vor allem seiner wirtschaftlichen Wiederauferstehung kann das nur zuträglich sein. Recep Tayyip Erdoğan ist als autoritärer Staatschef so disponiert, dass er ein solches Arrangement nicht nur aushandeln, sondern um seines nationalistischen Renommees willen auch auskämpfen will. Die EU hat auf diese geostrategisch angehauchte politische Dynamik derzeit so gut wie keinen Einfluss.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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