Weihnachten 1914: An der Westfront feiern die Feinde gemeinsam
Zeitgeschichte Eine Verbrüderung, mit der keiner rechnete. Unglaubliches geschieht an der Westfront – über die Gräben hinweg wird Weihnachten gefeiert. Es gibt das kleine Innehalten beim großen Sterben
Feldpostkarte „Der Weihnachtsmann an der Westfront“: Er bringt Munition, Granaten und einen Weihnachtsbaum
Foto: Stefan Sauer/ZB/dpa
„Stille Nacht! Heilige Nacht! Die der Welt Heil gebracht, aus des Himmels goldenen Höhn ...“ Es mutet an wie surreales Theater, was am 24. Dezember 1914 an der Westfront passiert. Der Kammersänger Walter Kirchhoff beschwört mit heller Stimme, wie sich um diese Stunde „alle Macht väterlicher Liebe“ ergießt und „als Bruder huldvoll umschloss Jesus die Völker der Welt“. Allerdings bleiben die gerade jeden Liebesbeweis schuldig. Die Heilige Nacht liegt über Schützengräben, Granattrichtern und den gebrochenen Augen der nicht geborgenen Toten zwischen den Linien. „Schlaf in himmlischer Ruh“ schwebt das Lied über zerwühlter Erde.
Kammersänger Walter Kirchhoff wagt sich aus dem Schützeng
ützengrabenKronprinz Wilhelm wollte es ausdrücklich, dass Kirchhoff, Ordonnanzoffizier der 5. Armee, im deutschen Graben sakrale Gesänge anstimmt. Dass daraus eine „Weihnachtsverbrüderung“ wird – das Wort macht später in den Stäben die Runde –, hat mit englischen Soldaten zu tun, die, von Kirchhoffs Vortrag ergriffen, die Deckung verlassen und applaudieren. Dem entgeht das nicht. Bald steht auch er auf der Schanze und wagt Schritte ins Niemandsland. Wenn nicht die Weihnachtsbotschaft, so muss er sich selbst für unverwundbar halten. Man kommt sich näher und geht aufeinander zu. Als deutsche Soldaten den Sänger zurückhalten wollen, geraten auch sie zwischen die Fronten. Keine Hand tastet nach dem Abzug, kein Maschinengewehr wird entsichert, kein Schuss fällt.Das kleine Innehalten beim großen Sterben erweist sich als unantastbar für eine Stunde und mehr, bis zum nächsten Morgen, der ein sonniger, ungemein klarer sein wird, beseelt vom flüchtigen Frieden, über den Engel wachen – und den Ratten zerfressen. Wann, wenn nicht jetzt, sollte der Mensch irre werden an seiner Natur. Die Umstände könnten günstiger nicht sein. Er sollte sich den Gefallen tun, aber er lässt es – seiner Natur zuliebe. „Die Trommel ruft zum Streite, er ging an meiner Seite. Gloria, Viktoria“. Das klingt zu gewaltig, um davon nicht erschlagen zu werden. Gewaltiger als jedes Ave Maria.Was Thomas Mann im Herbst 1914 schriebZu blutleer ist die Vernunft, um Millionen davor zu bewahren, sich weiter opferfreudig in die Knochenmühle des Krieges zu werfen. Zu blutselig klingt das Pathos der Patrioten daheim, die anspornen, ohne selbst springen zu müssen, wenn andere stürzen. Dichter wie Rainer Maria Rilke beugen Knie und Geist in Ehrfurcht vor dem „Gott des Krieges“: „Und wir? Glühen in Eines zusammen, in ein neues Geschöpf, das er tödlich belebt.“ Thomas Mann verwünscht in seinem Essay Gedanken im Kriege, verfasst im Herbst 1914, die so gründlich aufgegebene Welt des Friedens, „die nun nicht mehr ist – oder doch nicht mehr sein wird, wenn das große Wetter vorüberzog. Wimmelte sie nicht von dem Ungeziefer des Geistes wie von Maden. Gor und stank sie nicht von den Zersetzungsstoffen der Zivilisation?“Wie wohltuend, dass ein Weltkrieg dem Einhalt gebietet. Noch dazu einer, der das Zeug hat, zur verheerendsten Erfahrung in der Geschichte der Menschheit zu werden. Frappierend, wie in Kriegszeiten – und das ist heute nicht anders, als es 1914 war – Gesellschaften an Contenance verlieren und Gesittung gegen kollektive Verbohrtheit eintauschen. Gesinnungsmilitarismus und die Moral des Ressentiments als zeitlose Phänomene, die umso schwerer aufzugeben sind, je mehr sie sich als Furor Germanicus radikalisieren. Thomas Mann bringt es fertig, die Klage über die von deutscher Artillerie im September 1914 zerstörte Kathedrale von Reims als Zeichen für die „Verweiblichung“ des Feindes zu deuten. Man kreische „mit Fistelstimme: ‚Die Zivilisation!‘“Nach 40 Jahren Frieden in EuropaIm August 1914 hatte niemand eine Ahnung davon, was Europa bevorstand. Der Kontinent kam aus einer über 40-jährigen Friedenszeit. Sie aufzugeben, schien nicht mehr zu sein als das Wagnis eines tollkühnes Abenteuers. Es galt, aus Neugier und Übermut ein fremdes Haus zu betreten, an dem man nicht länger vorübergehen wollte, ohne sich Einlass zu verschaffen. Und dann geschah das Unerwartete. Eine Falltür öffnete sich, und so wild die Arme ruderten, es gab keinen Halt und kein Halten mehr. In endlosen Gewölben lagen Menschen in einem Bad aus Blut und Eingeweiden. Sie flüsterten, erschießt mich, sie waren tot, bevor sich jemand aufraffte.Weihnachten 1914 schien es noch möglich, dem Grauen Grenzen zu setzen. In fünf Monaten waren von 3,5 Millionen russischen Soldaten anderthalb Millionen gefallen, verwundet oder in Gefangenschaft. Das britische Expeditionskorps in Frankreich zählte 110.000 Mann, es blieben 30.000. Frankreich hatte mit der Generalmobilmachung zwei Millionen Menschen zu den Waffen geholt, was 300.000 nicht überlebten. Deutschland musste 240.000 Gefallene im Westen und Osten, an der Marne und der Pregel, hinnehmen. Ein Krieg der zwei Fronten forderte seinen Tribut. Das kaiserliche Heer wollte in Belgien Schwung holen und auf Paris marschieren, bis es in Nordfrankreich nicht mehr vorankam. Die Entente aus Franzosen und Briten hielt sich für stark genug, den Aggressor wieder aus dem Land zu fegen – sie scheiterte bei Roye im Süden, bei Lille und Passchendaele im Norden. Alle gingen zum Stellungskampf über. Es reifte die Gewissheit, der Krieg wird dauern. Hatte er sich in den Gräben festgefressen, lockt ihn so schnell niemand mehr heraus.Der Horror der SchlachtFür die Soldaten bedeutet das Torturen ohnegleichen. Anfangs können die Unterstände kaum entwässert werden, oft stehen die Männer bis zu den Hüften im Schlamm, Ratten zerfressen die Sandsäcke auf der Schulterwehr, Gefallene können erst aus dem Niemandsland geborgen werden, wenn von ihnen nicht mehr viel übrig ist. „Kameraden wachen nachts auf und finden eine Ratte unter ihrer Decke, die Wärme sucht. Es gibt Millionen davon. Manche so groß wie Katzen. Es ist unfassbar, was der Mensch ertragen kann“, schreibt Walter Limmer seiner Mutter in North Yorkshire. „Seit 16 Tagen haben wir uns weder gewaschen, noch konnten wir schlafen. Wir leben zwischen Toten und Sterbenden, unsere Wangen sind hohl, die Bärte lang, die Kleider voller Dreck“, klagt Capitain Henri Desagneaux am 22. November 1914 seiner Frau in Paris. Der Schrecken ist am größten, wenn es zum Sturmangriff über den Grabenrand geht. Der Horror der Schlacht, das Donnern der Artillerie, das Krachen der Bodenminen lässt sich schwerer beschreiben, als es erlebt werden muss.Der „Weihnachtsfrieden“ von 1914 will nicht beim Wort genommen sein. Es handelt sich mehr um eine Kampfpause, die an einigen Frontabschnitten als stillschweigende Übereinkunft einander gegenüberliegender Bataillone zustande kommt – bei Arras, St. Mihiel, Châlons-sur-Marne. Die deutsche Oberste Heeresleitung leistet dem ungewollt Vorschub, als sie Christbäume auf die Gräben verteilen lässt, damit es der Stillen, Heiligen Nacht nicht an Kerzenschein fehlt, „da uns schlägt die rettende Stund“, wie Walter Kirchhoff singt. Wie kaum anders zu erwarten, wird die „Verbrüderung“ als Fraternisieren geächtet, aber nicht exemplarisch bestraft. Die beteiligten Einheiten, deren zensierter Post zu entnehmen ist, dass sogar Geschenke ausgetauscht und Familienfotos herumgereicht wurden, finden sich ausnahmslos an andere Fronten versetzt. Ein Jahr später, am 24. Dezember 1915, vermerkt Ernst Jünger in seinem Kriegstagebuch: „Nachher versuchten die Engländer sich anzubiedern, indem sie vor dem Abschnitt des 2ten Zuges einen Christbaum mit Fähnchen auf die Brustwehr stellten. Unsere Leute fegten ihn mit etlichen Schüssen wieder herunter ... “Epilog 1924: Kurt Tucholsky reist nach VerdunBis Weihnachten 1914 werde man wieder zu Hause und alles erledigt sein, hatte man den Männern versprochen, als sie unbedingt Krieger sein wollten. Nichts und alles hatte sich erledigt. Auf das Gemetzel von Langemarck und die Schlacht an der Marne im Herbst 1914 folgen 1915 die Giftgasschwaden über der Landschaft bei Ypern und 1916 der Glutofen von Verdun.Dorthin reist im Frühjahr 1924 der Schriftsteller Kurt Tucholsky, um unter dürrem Gras lagernde Mondkrater zu durchwandern und in einstige Unterstände zu steigen. Acht Jahre zuvor haben hier Menschen gehaust, die kaum noch so genannt werden konnten. Aber sie waren es und blieben es für immer und ewig. Am einstigen Fort Douaumont stößt Tucholsky auf einen kaum mehr sichtbaren Graben und schreibt darüber in der Weltbühne vom 7. August 1924: „Am 11. Juni 1916 wurde hier die Besatzung – es war die zweite Linie – verschüttet. Keiner entrann. Man fand sie so, unter der Erde, nur die Bajonette ragten heraus. Der Graben ist seit diesem Tag so erhalten … Eine Mutter kann ihr Kind hierher führen und sagen: ‚Siehst du? Da unten steht dein Vater.‘“
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