Auskunft über Amerika

Buchkritik Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat mit »American Matrix« ein vielbeachtetes Buch vorgelegt. Warum es zu Recht als bemerkenswert eingestuft wird – und trotzdem nicht das enthält, was die Kritiker vermeintlich aus ihm herauslesen.

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Hegten einen etwas anderen Traum von Amerika: anarchistische Aktivisten in New York (1910)

Zugegeben: Karl Schlögel, seines Zeichens Publizist und Osteuropa-Historiker, war bereits in der Vergangenheit für Überraschungen gut. Ziemlich weit links gestartet – mit Stationen bei (spontaneistischer) Proletarischer Linker und dem Studentenverband der maoistischen KPD – avancierte er in der Nachwende- und Post-Nachwende-Ära zu einem inhaltlich kompetenten wie allseits gefragten Osteuropa-Kenner. Den ideologischen Schwenk von Ost nach West – sprich: vom Maoismus zu den Grünen – haben in seiner Generation viele vollzogen. Nichtsdestotrotz war ein essayistisches Werk, das auf insgesamt 832 Seiten die Faktoren unter die Lupe nimmt, die – Schlögel zufolge – Voraussetzung waren für die Weltmachtrolle der USA im 20. Jahrhundert, nicht unbedingt das, was man von diesem Autor erwartet hätte – auch wenn seine Position als entschiedener Transatlantiker hinlänglich bekannt ist.

Seit September liegt Schlögels US-Opus nun vor, und bereits im Freitag-Interview lösten Buch und Autor erwartbare Widersprüche ebenso aus wie weniger erwartbare. Die erwartbaren ergeben sich aus Schlögels Positionen zum Ukraine-Krieg – eine Ukraine-unterstützende Haltung ist auch und gerade auf der linken Hälfte des politischen Spektrums eine Position, die einen schnell umstritten macht. Die weniger erwartbaren könnte man als eine Art Mißverständnis klassifizieren: die Auffassung oder Annahme, Schlögel habe mit American Matrix eine Art »Matrix« abgeliefert, die – quasi mit wissenschaftlichen, und wenn schon nicht wissenschaftlichen, dann wenigstens kulturhistorischen Argumentationssträngen – aufzeigt, was genau Amerika zur vorherrschenden Weltmacht des 20. Jahrhunderts gemacht hat. Das kann man so sehen, und nicht wenige Kritiken des Buchs wollen genau das herauslesen. Aber ist das auch so? Werfen wir zunächst einen Blick auf den Inhalt.

Bereits das ausführliche Inhaltsverzeichnis suggeriert, dass es hier um Alles oder Nichts geht – das sozusagen einer in die Tiefe gestiegen ist und mit der essayistischen Grubenlampe jeden, aber auch jeden Winkel der »American Matrix« durchleuchtet. Die Abfolge der 28 – in sich jeweils in mehrere Betrachtungsabschnitte untergliederten – Kapitel orientiert sich hauptsächlich an thematischen Aspekten, auch wenn eine gewisse zeitliche Abfolge grob eingehalten wird. Überraschend ist die Auswahl der USA-Besucher, deren US-Aufenthalte Schlögel in den ersten vier Kapiteln beschreibt. Alexis de Tocqueville als scharfsichtiger Beobachter der Jacksonian Democracy ist da natürlich fast unabhömmlich. Der Weltausstellungs-Tourist Max Weber mag als kritischer Zeitzeuge ebenfalls durchgehen. Die Wahl des Zoologen und Geografen Friedrich Ratzel sowie der beiden sowjetischen US-Besucher Ilja Ilf und Jewgeni Petrow indess ist in dem Kontext schon eher exquisit.

Warum wird Themengebiet A breit dargelegt, Themengebiet B hingegen nur beiläufig oder gar nicht? Die Gründe für die Auswahl ergeben sich aus einer Art Vorsortierung. Wichtig für die Herausbildung des American Way of Life war – Schlögel zufolge – vor allem das Wirken der Maschine: die Entfesselung der Produktivkräfte, in deren Zug ein Teil den nächsten antizipierte. Als günstiger Humus erwiesen sich darüber hinaus Individualismus, Entscheidermut, Improvisationsgabe und Regierungen, die sich in entscheidenden Momenten nicht scheuten, Geld in die Hand zu nehmen. Die zentralen Kapitel von American Matrix rücken folgerichtig die wesentlichen Stationen dieses Prozesses in den Mittelpunkt: Auf ambitionierte Kanalbau-Projekte wie den des Erie-Kanals folgte der Eisenbahnbau, diesem die Motorisierung, diesem schließlich der Ausbau des – im Highway- und Interstate-System mündenden – Straßennetzes sowie die Infrasktruktur für das den Globus umspannende Flugliniennetz.

Flankiert wurde das Ganze durch eine vertikale Architektur, wie sie sich in den Skylines von Manhattan und Chicago dauerhaft verewigt hat. Schlögel beschreibt die Schlacht um Elektrizität und Wasser, wie sie etwa beim Bau des Hoover-Dams manifestierte, mit ebensolcher Leidenschaft (man möchte fast sagen: Maschinenbesessenheit) wie das Gegenteil: die flächigen Landschaften mit ihren uniformen, sich in der Weite verlierenden Normal-Städten. Platz in einem Kapitel finden auch die Pracht und Herrlichkeit der Naturmonumente – beschrieben am Beispiel des Grand Canyons. Kulturelle Faktoren kommen in Schlögels Laudatio auf das amerikanische Zeitalter ebenfalls zu ihrem Recht: etwa der deutsch-amerikanische Transfer – festgemacht am »Weimar in Hollywood« und der eher nicht so bekannten Deutschland-Migrantin Salka Viertel.

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Farm in Montana (1942): Das große weite Land und die Schlachthöfe waren laut »American Matrix« gleichermaßen Produktivkräfte des American Way of Life.

Das alles – und noch viel mehr – erfahren der Leser und die Leserin in essayistischen Beiträgen, die manchmal weitschweifig sind, aber stetig mit einer Fülle von Information und so nicht wahrgenommenen Aspekten daherkommen. Womit wir beim vielleicht kritischsten, bedenkenswertsten Aspekt dieses Buches angelangt werden: das Konzept, den Aufstieg der USA quasi von der Metaebene her aufzuzäumen – konkret: durch die Brille anderer USA-Reisender oder sonstiger Zeitgenossen. Die Methode, jemand zu beschreiben, der seinerseits etwas beschreibt, intendiert per se Reibungsverlust: einen Verlust an Unmittelbarkeit sowie Anschauung aus erster Hand. Dass dem Autor seine Abhandlung unter der Hand entgleitet zu einem Lobgesang auf das Maschinenzeitalter, ist ein weiterer Punkt, den man einerseits so hinnehmen kann, andererseits jedoch auch kritisch hinterfragen.

Die Auswahl der Aspekte ist so vielleicht der wesentlichste Punkt, den man dieser – bereits vom Volumen her als Standard daherkommenden – Matrix vorwerfen kann. Sicher – alle Aspekte von Gegenwart und Vergangenheit der Weltmacht USA in ein Buch zu packen hat bislang noch niemand geschafft. Nichtsdestotrotz werden sich vor allem bei Leserinnen und Lesern, die sich mit den USA näher auskennen, die Vorbehalte gegen Schlögels Darstellung aufsummieren. Wesentlich hier sind vor allem jene Brüche, die auch für die Maßstäbe einer so robusten Nation wie die der USA exorbitant waren: der Bürgerkrieg bis hin zu den Bürgerrechts-Erfolgen der Sechziger, die Sozialpakete des New Deal und schließlich auch das in Wellen erfolgende Changieren zwischen gesellschaftspolitischer Archaik und progressiven Politikansätzen.

Folgerichtig kommen die »Red Scare«, das Hoover-FBI, das Großwerden der Mafia, der Krieg gegen die Drogen und das damit unmittelbar einhergehende Anwachsen des Gefängnissystems in dem Buch eher als Randnotizen vor denn als eigenständige Themen. Auch wenn andere »amerikakritische« Aspekte wie etwa der Abbau des Personen-Schienenverkehrsnetzes keinesfalls ausgespart werden, wären mehr Entwicklungsstränge abseits der reinen Ökonomie nicht nur aus Gründen profaner Vollständigkeit zweckmäßig gewesen. Schließlich haben die Gegenwellen gegen das reaktionäre Amerika auch gezeigt, dass diese große Nation offenbar über Selbstheilungskräfte verfügt, die in der Lage sind, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Last but not least kommt auch manches Löbliche nicht vor – etwa die bemerkenswerte Offenheit der durchschnittlichen Landesbewohner oder etwa die Tatsache, dass die USA speziell auch für den Sektor Public-Domain-Fotografien Formen von Zugänglichkeit aufgegleist haben, von denen ein (sozial angeblich austarierteres) Land wie Deutschland Lichtjahre entfernt ist.

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Karl Schlögel bei einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung (2012)

Am Ende steht hinter jedem »wenn« ein »aber«. Trotz der gewählten Meta-Darstellung und der – zum Hadern mit der Themenauswahl geradezu einladenen – Themenauswahl hat Karl Schlögel ein gut zu lesendes, über die Komplettstrecke interessantes und in manchen Parts sogar fesselndes Buch verfasst. Am Ende erfahren die Leserin und der Leser doch eine Menge über ein Land, dessen Bewohner mit denen von Germany zumindest eines gemeinsam haben: dass Kenntnisse von sowie Interesse an dem jeweils anderen Land nicht allzu ausgeprägt sind. Darum: Wertung »lesenswert« – auch wenn die Frage, was letztendlich die »American Matrix« ausmacht, die uns das Amerikanische Zeitalter beschert hat, weiterhin ein Diskussionspunkt bleiben wird.

Karl Schlögel: American Matrix. Besichtigung einer Epoche. Hanser Verlag, September 2023, 832 Seiten. ISBN 978-3-446-27839-4.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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