Historiker Karl Schlögel: „Europa hatte sich für Amerika und die Sowjetunion erledigt“
Interview Was ist das Besondere am American Way of Life – trotz aller Brüche? Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel ergründet seine eigene langjährige Faszination
„,American Matrix‘ ist der Versuch, einer schon lange bestehenden Faszination nachzugehen.“ – Karl Schlögel
Foto: Keystone/Getty Images
Mit Das sowjetische Jahrhundert erklärte uns der große Osteuropa-Historiker Karl Schlögel die russische Seele. Was die American Matrix ausmacht, zeigt Schlögel in seinem faszinierenden gleichnamigen Buch. Er empfängt uns in seiner Berliner Altbauwohnung.
der Freitag: Herr Schlögel, Sie sind eigentlich von Beruf Osteuropa-Historiker, wie kam es zu diesem Buch?
Karl Schlögel: Ja, warum? Es gibt unzählige fantastische Amerika-Bücher. Ich merkte aber, dass ich sozusagen einen Blick von der Seite hatte, der etwas mit „meiner“ Sowjetunion zu tun hat. 2017 hatte ich Das sowjetische Jahrhundert geschrieben, und im Grunde ist diese Amerika-Reflexion das parallele Buch dazu. Es könnte auch „Das amerikanische Jahrhundert“ hei
merika-Reflexion das parallele Buch dazu. Es könnte auch „Das amerikanische Jahrhundert“ heißen.Entstanden ist ein Reiseführer der besonderen Art, die eigentlichen Sehenswürdigkeiten sind aber nicht die Freiheitsstatue, sondern Amerikas Highways oder der Bahnhof in Pennsylvania aus Glanzzeiten der Eisenbahn. Sie schreiben, spätere Historiker werden sich die Shopping Mall als Institution soziologisch vornehmen müssen ...Der Ausgangspunkt ist bei mir eben nicht der akademische Diskurs, sondern die Erfahrung jedes Menschen, der in Amerika unterwegs ist. Und an der Shopping Mall kann man eine ganze Geschichte erzählen. In diesem Fall über Victor Gruen, den Erfinder der Mall, der 1938 vor Hitler nach Amerika geflüchtet war. Gruen wollte, dass die Stadt nicht auseinanderfliegt, sondern dass sie wieder ein Zentrum bekommt, einen sozialen Ort. Er kam aus diesem sozialen, sozialistischen Denken Europas und entwickelte diesen „common place“, der dann Weltkarriere gemacht hat. Gruen war in den 1950ern auch in der Sowjetunion, wo er sogar das uns allen bekannte Kaufhaus GUM am Roten Platz wiederum als eine originale, primäre Form der Mall beschrieben hat. Das war das Großartige beim Schreiben, wenn Sie anfangen zu kratzen, kommt plötzlich eine Geschichte heraus, auf die Sie nicht gefasst sind, die elektrisiert.Eine Frage, weil der Vergleich mit der Sowjetunion, mit Russland einen Unterstrom in dem Buch bildet, der unheimlich anregend ist: Hat dieser Unterstrom mit Enttäuschung darüber zu tun, dass das sowjetische Projekt auf diese Weise geendet hat?Nein, eigentlich nicht, American Matrix ist der Versuch, einer schon lange bestehenden Faszination nachzugehen. Kein Versuch, das retrospektiv zu stilisieren. Die Gefahr ist ja immer da. Ich war einfach immer wieder fasziniert und auch natürlich schockiert. Das Zentrum der Kraftentfaltung liegt für mich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das Amerika der Streamlining-Modernity, des Rockefeller Center, der ganze Aufstieg Amerikas entlang von Highways. Es liegt in den dreißiger Jahren, und das hat etwas mit dem New Deal zu tun, mit der Bewältigung der Weltwirtschaftskrise, mit dem Amerika, das aus der Phase des wilden Kapitalismus heraus ist und Formen von Welfare hervorbringt. Sowohl für das Amerika dieser Zeit als auch für die Sowjetunion gilt: Sie haben nicht mehr am alten Europa Maß genommen, Europa hatte sich für beide eigentlich erledigt, durch den Ersten Weltkrieg, die Selbstzerfleischung. Sowjetische Ingenieure fuhren nach Detroit, Henry Ford war eine der populärsten Figuren in der Sowjetunion, man wollte ein Detroit an der Wolga bauen. Es ging darum, jenseits von Europa die neue Welt zu bauen, die New New World. Das ist der harte Kern, die Kraftentfaltung Amerikas steht für mich in diesem Zusammenhang. Was dann nach 1945 passierte, ist, wenn man so will, das Ernten der Früchte, die Ausbreitung der amerikanischen Soft Power dann auch in der Welt.Wenn man Ihr Buch liest, hat man den Eindruck, dass die Entstehung der USA von einem großen Idealismus getragen ist. Dabei hat man die USA ja eher als Weltmacht im Auge, die interessengeleitet agiert und eben nicht wertegeleitet.Ich habe eigentlich nicht über Werte geschrieben. Das spielt natürlich eine Rolle, aber mich interessiert die Lebensform. Der ganze Komplex, wie das Leben eingerichtet wird. Das ist für mich nicht, ich sage jetzt mal die Proklamation von Prinzipien, sondern die Kompaktheit einer Lebensform.Zum Beispiel auf dem Campus ...Ja, genau. Die Campus-Universität in Amerika hat mich immer fasziniert, sie war eine Art Insel der Seligen. Da saßen die Studenten und Studentinnen in entspannter, freier Weise auf dem Rasen, aber gleichzeitig herrscht auch eine fordernde und anspruchsvolle Art des Arbeitens. Man weiß, dass man etwas bringen muss. Als ich dann zu recherchieren anfing, stellte sich heraus, dass es dafür ein Konzept gab, und zwar von einem der Gründer der Vereinigten Staaten, Thomas Jefferson, einem Multitalent, der als klassisch gebildeter Mensch die ganze Architekturentwicklung in Frankreich im 18. Jahrhundert, in England wie Italien kannte und Zeichnungen anfertigte, wie die ideale akademische Ausbildungsstätte aussehen soll.Placeholder infobox-1Ein Gegenmodell zu den Eliteunis Cambridge oder Oxford …Und das bedeutet ja nicht, dass das eine heile Welt ist. Es gibt das ganze Genre des Campus-Romans, wo man darüber lesen kann. Überhaupt stieß ich bei fast allen meinen Kapiteln auf klassische Literaturtexte, in denen Phänomene beschrieben sind, so großartig, wie das kein Historiker kann. Deswegen spielen in meinem Buch auch Zitate eine so große Rolle. Das ist nicht Verlegenheit. Im Grunde ist mein Verfahren an dem von Walter Benjamin im Passagen-Werk abgeschaut: eine Montage aus historischen Texten, Erinnerungen, Zeitzeugen, Beobachtungen.In postkolonialen Debatten wird, wenn ich Sie richtig verstehe, diese Entwicklungsgeschichte gecancelt, um mal das Modewort zu benutzen. Können Sie das festmachen an eigenem Erleben?Man muss das nicht dramatisieren, dass die Wissenschaftsfreiheit wirklich in Gefahr ist. Aber es gibt eine Gefahr für die freie Rede. Es gibt all die Sprachregelungen, man muss Rücksicht nehmen, dass man niemanden kränkt. Das produziert eine Befangenheit des Sprechens. Das zeigt andererseits auch wieder die Sensibilität einer echten multikulturellen Gesellschaft, die wirklich unwahrscheinlich heterogen ist, die aber auch ihre Gefahren hat, dass sie sich in zehn Personen mit zehn verschiedenen Identitäten auflöst, denen man dann gar nicht mehr gerecht werden kann.Die amerikanischen Höflichkeitsformen, wundert man sich selbst auch immer, stehen in einem harten Kontrast zu Russland beziehungsweise der Sowjetunion ...Die amerikanische Höflichkeit, „civility“, ist der Gegensatz des brachialen sowjetischen Umgangs. In Russland ist man nicht höflich, sondern herzlich. In den USA geht es um die Wahrung der Form im Austausch mit ganz verschiedenen Menschen. Ich nenne das die zweite Verfassung. In den 80er Jahren, als in der Sowjetunion die Perestroika losging, habe ich mich gewundert, dass überall dieses Buch von Dale Carnegie herumlag, How to Win Friends. Das Buch traf ein tiefes Bedürfnis der sowjetischen Gesellschaft, endlich rauszukommen aus der Bösartigkeit in der Warteschlange. Adorno hat ein ganzes Kapitel über „Keep smiling“ geschrieben, das angeblich nur gespielt ist. Dieses alteuropäische Überlegenheitsgefühl gegenüber dieser Leistung der amerikanischen Zivilisation ist ein Punkt, der mir wichtig erschien.Eines der wesentlichen Motive, die sich durch das ganze Buch ziehen, ist dieses Projekt der Gleichheit in Amerika, für das wir als Linke weniger ein Auge haben, wir sehen immer nur die Ungleichheit. Aber das, was Sie beschreiben, die Verfasstheit dieser Matrix, mit der Architektur, den Biografien, dem Campus, den Verkehrswegen und den Bahnhöfen, das ist alles auch ein großes Projekt von Gleichheit und Integration. Nur eben ganz anders als das Gleichheitsprojekt etwa der Sowjetunion …?Die alteuropäische Kritik an den USA besteht ja darin, die amerikanische Kultur als standardisiert, als Gleichmacherei nicht im politischen oder sozialen Sinne, sondern im ästhetischen herabzuwürdigen. Das Modell ist dabei oft eine Dienstleistung, die sich inzwischen weltweit durchgesetzt hat. Die Kritik an der standardisierten Kultur gehört zum alteuropäischen Überlegenheitsgefühl, es hat eine politische Dimension, eine soziale und eine ästhetische, die sehr wichtig ist.Placeholder image-1Noch so ein alteuropäisches Vorurteil: Die Amerikaner gelten als traditionslos und geschichtsvergessen. Aber die USA sind ein Land der Museen!Das war für mich auch eine große Entdeckung. Dass es eine Museumskultur gibt, in der Offenheit und aufklärerisch pädagogischer Effekt zusammenkommen. Die amerikanischen und die europäischen Museen haben eine ganz andere Geschichte. Und dass es möglich ist in diesem Land, das auf die Verfassungsväter eingeschworen ist, auf Jefferson und Washington, dass man jetzt da besichtigen kann, dass dieser Jefferson nicht nur ein großer Aufklärer, sondern auch ein Rassist war, dass sie sich zutrauen, die ganze Geschichte zu erzählen, auch die verdrängte, verbotene, ignorierte, im Zentrum der Hauptstadt, also das ist auch wieder ein Grund für meine Zuversicht.Auch wenn es natürlich nicht ohne Widerstand geschieht. Es gibt auch massive Backlashs. Das Verhältnis zu den Waffen kommt in Ihrem Buch nicht vor. Passte es nicht ins Konzept?Nein, das war mir eigentlich immer präsent, schon als ich 1970 zum ersten Mal da war. Ich habe ja alle diese Büros der Black Panther besucht. Da ging es um das Recht auf Selbstverteidigung der Schwarzen gegenüber diesen mörderischen Überfällen von FBI und Nationalgarde. Ich habe natürlich die Schießereien mitgekriegt. Ich fand jedoch keine Form, um das Waffen-thema zu behandeln.Sie beschreiben die USA als ein Land im Begriff des ständigen Aufstiegs und Niedergangs, auf Fortschritt folgt Depression. Sind Sie pessimistisch?Das amerikanische Jahrhundert ist die Geschichte einer prägenden Zivilisation mit großer Ausstrahlungskraft. Dass es damit jetzt zu Ende ist, würde meiner Meinung nach die Fähigkeit Amerikas, sich neu aufzustellen, unterschätzen. Amerika ist viel stärker. Es ist nicht nur das politische Washington, nicht nur der Trumpismus.Sehen Sie keine Hoffnung im Digitalen?Doch. Aber ich bin ein Mensch der alten Zeit. Das Silicon Valley kommt nicht vor, weil ich keinen Zugang fand. Aber dass dort Innovationen in Gang gesetzt worden sind, die weltweite Strahlkraft besitzen, ist unbestreitbar. Im Fokus meiner Betrachtung steht die Zeit, die mit der Weltausstellung von Chicago 1893 beginnt; das ist für mich so der große Auftritt auf der Weltbühne, bis dann zu 9/11. Es geht um die Fähigkeit, sich immer wieder neu aufzustellen, die Amerika auszeichnet.Ich sehe dafür eine Bestätigung in dem Kapitel zu Los Angeles, wo Sie Mike Davis als Pessimisten porträtieren. Aber so aktuell viele kritische Überlegungen noch sind, inzwischen gibt es unter anderem eine funktionierende Metro ...Ja, sie arbeiten ständig weiter. Auch im Bezug auf die katastrophalen Entwicklungen mit Bränden oder Wassermangel. Es kommt mir so vor, dass von diesen katastrophischen Erfahrungen immer auch Innovationen angestoßen werden. Auch das Problem mit dem Waffenbesitz. Es gibt die Fähigkeit, sich den Problemen zu stellen. Das finde ich einfach großartig. Und es gibt eben Gesellschaften, die auch an ein Ende gekommen sind, aber die sich verrennenWie jetzt Russland. Andererseits war man bei der Fußball-WM 2018 erstaunt, wie viel sich auch in Städten wie Jekaterinburg, Kasan oder Saransk seit dem Ende der Sowjetunion getan hat ...Das stimmt auch. Das Land ist seit 1991 ein anderes geworden. Aber die ganzen Kräfte, die sich davor den Kopf zerbrochen haben, wie es weitergehen soll mit Russland, sind entweder eingesperrt, verstummt oder sitzen in riesigen Zahlen jenseits der Grenzen. Die Antwort, die jetzt gilt, ist die des Regimes, das aber von der Gesellschaft mitgetragen wird, die den Krieg mit unterstützt. Denn was jetzt in Kasan oder Saratow passiert, ist, dass sie ungemein vom Krieg profitieren, von der Militarisierung der Industrie.Sie haben an dem Buch während des fortdauernden Russland-Ukraine-Krieges geschrieben, spielte das eine Rolle?Die Arbeit am Buch wurde eigentlich eine Art Selbstverpflichtung, sich gewissermaßen nicht von Putin sagen zu lassen, was man zu tun hätte. Es ging mir wirklich um ein Durchhalten und die Sache, die man für notwendig und richtig befindet. Warum mir das geglückt ist? Nur deswegen, weil ich immer Neues, Ungewöhnliches entdeckt habe. Man kann so eine Arbeit nicht durchstehen, wenn man nicht belohnt wird.Nach der Lektüre will man sofort ein paar Monate durch die USA reisen – und Ihr Buch „American Matrix“ Antiamerikanisten empfehlen, damit sie diese breite Faszination für die USA verstehen, die eben nur vermeintlich unkritisch ist.Ja, vielleicht ist mein Buch ein intellektueller Reiseführer, der dabei bewusst sowohl Pro- als auch Antiamerikanismus unterläuft. Der noch einmal einen Schritt zurücktreten will von der Front und von all dem Pro und Kontra, und einfach noch mal hinschauen.
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