Gipfel-Nachbereitung

G20-Gipfel Der Hamburger G20-Gipfel liegt mehr als zwei Jahre zurück. Die Wertungen betreffend die Protest-Mobilisierung fallen durchwachsen aus. Zwei Bücher zum Thema

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Gipfel-Nachbereitung

Foto: John MacDougall/AFP via Getty Images

Auch im Nachhinein bot der Hamburger G20-Gipfel alle Inkredienzen eines zünftigen Polit-Krimis. Zum einen war da der kaum zu leugnende Umstand, dass die Hamburger Polizei-Einsatzführung sowie politisch dafür verantwortlicher Senat die Situation bereits im Vorfeld zugespitzt und somit ihren Part zur Eskalation beigetragen hatten. Schlecht mit rechtsstaatlichen Prinzipien in Vereinbarung bringen ließ sich darüber hinaus die Aussperrung von 32 bereits akreditierten Journalist(inn)en – ein »Krimi im Krimi«, der einerseits den G20 zwar zusätzlich delegitimierte, andererseits das mediale Aufmerksamkeitsfenster der unmittelbaren Folgewochen auf einen vergleichweise kleinen Teilaspekt richtete. Ein Fall für sich war darüber hinaus die zu erwartende Repressionsschraube. Die von manchen gehegte Befürchtung, dass die politisch Verantwortlichen nunmehr auf eine ähnliche Weise »tabula rasa« machen würden wie im Deutschen Herbst, bewahrheitete sich – trotz Negativ-»Highlights« wie der Justizskandal um den ohne validen Anklagepunkt in Untersuchungshaft gesteckten Demonstrationsteilnehmer Fabio V. – letztendlich zwar nicht. Ungeachtet dessen sind die rund 150 Urteile die seither ergingen (Stand: Sommer 2019) sowie Freiheitsstrafen in Höhe von bislang 110 Jahren (Stand: ebenda), durchaus beachtlich – und aufgrund der zur Anwendung gekommenen Streu-Systematik auch demokratisch mit Bedenken zu sehen.

Die anskizzierte Repression fiel zudem in eine Zeit, in der speziell die Träger(innen) der radikaleren Protestformen an mehreren Fronten beschäftigt waren. Das Fortune dabei war wechselhaft: Rücktrittsforderungen an die Adresse der für den polizeilichen Ausnahmezustand Verantwortlichen waren in dem Hetzklima nach dem Gipfel politisch nicht durchsetzbar; stattdessen galt es, die von rechtskonservativer Seite aufgegleiste Forderung nach Räumung des Zentrums Rote Flora zu konterkarrieren. Die Diskussion über den Verlauf der Proteste selbst geriet dabei keinesfalls unter den Teppich. Hauptfragen hier: Waren der Verlauf der »Welcome-to-Hell«-Demo sowie die Riots am Folgetag Ereignisse, die letztlich auch den Veranstaltern aus dem Ruder gelaufen waren? Oder hatte der Verlauf der Protestwoche eine Folgerichtigkeit, deren Choreografie letzten Endes auf die staatlichen Akteure und Ausrichter zurückfiel? Zugespitzt formuliert: War die Mobilisierung summa summarum als Erfolg zu werten? Oder ist sie – trotz aller Breite – letzten Endes an eine Decke gestoßen, die eine Beschäftigung mit den Gründen unumgänglich macht? Entsprechend heterogen waren auch die Inhalte der Bücher, welche zum Gipfel bislang publiziert wurden. Zwei davon: »Das war der Gipfel«, herausgegeben vom Autor(inn)enkollektiv GoGoGo und erschienen im November 2018 bei Assoziation A und »Gewalt, Macht, Widerstand« – ein im Unrast Verlag erschienener Titel vom Sommer dieses Jahres.

Das war der Gipfel

Das Glas (der Proteste) war – mindestens – halb voll: Bereits Bebilderung sowie Allgemeinoptik von »Das war der Gipfel. Die Proteste gegen G20 in Hamburg« vermitteln einen Eindruck von der Protest-Vielfalt, die sich vor, während und nach der Hamburger-Ausnahmezustandwoche abpielte. Das im Vierfarbdruck sowie einem Quadrat-Format publizierte Buch des Hamburger-Berliner Verlags Assoziation A ist nicht nur für all jene Interessierten die beste Wahl, die die Gipfel-Woche reflektieren oder sich überhaupt erst einmal einen Überblick verschaffen wollen. Wie vielfältig der Protest war, fängt der Band recht gut ein. Teil der Protestaktionen waren, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: polizeilich geräumte sowie beständige Camps, ein Wendland-Treck, der Aufbau einer alternativen Medien-Infrastruktur inklusive Medienzentrum und freier Radio-Berichterstattung, Kunstaktionen wie 1000 Gestalten, Rebel Clowns sowie spontanes »Cornern« – sprich: sich-Versammeln – im öffentlichen Raum, Protestaktionen zu Wasser, in der Luft und via Fahrrad-Corso, eine »Lieber tanz ich als G20«-Demo am Mittwoch, ein Alternativgipfel, die »Welcome to Hell«-Demo am Donnerstag, die als Riots bekanntgewordenen Krawalle und Zusammenstöße vom Freitag und schließlich die große Abschlussdemonstration mit fast 100.000 Teilnehmer(inne)n.

Eine Stadt im Ausnahmezustand und eine Vielfalt letztendlich, die auch Buchautor(inn)en naturgemäss an ihre Grenzen bringt. Der rote Faden von »Das war der Gipfel« ist im wesentlichen zwar ein chronologischer. Um einen wirklichen Überblick zu gewährleisten, werden die einzelnen Etappen allerdings in Form thematisch gegliederter Kapitel mit jeweils drei bis sechs Einzelbeiträgen aufbereitet. Was in den Band mit hineinnehmen, was außen vor lassen? Bereits im Einleitungstext räumen die Herausgeber(innen) ein, dass Vollständigkeit angesichts des Fakten-Materials unmöglich ist. Mit-Herausgeber Theo Bruns: »Die Aktionen gegen den G20-Gipfel in Hamburg waren so zahlreich, widerspenstig und facettenreich, dass wir schnell feststellen mussten, dass unser Vorhaben illusorisch war, mit dem Buch das gesamte Panorama der Gipfelproteste abzubilden.« Die Texte in dem Band sowie die daraus folgenden Impressionen sind – bedingt durch die Vielfalt der Beitragenden – recht unterschiedlich. Konkret: Erfahrungsberichte wechseln sich ab mit Übersichtsbeiträgen, Einschätzungen, Interviews sowie eher künstlerisch in Angriff genommenen Aspekten. Die gewählte Vielfalt mag zwar dem Anspruch eines zeithistorischen Titels nicht ganz gerecht werden. Dafür vermittelt sie einen atmosphärisch recht dichten Eindruck vom Ausnahmezustand, dem die Hansestadt während des Gipfels unterlag.

Eingebetteter Medieninhalt

Unterstrichen wird dieses Anliegen auch durch die Gestaltung: Die Kombination aus grafischer Gestaltung, Bildpräsentation und Text ist derart gut gelöst, dass das Buch allein deswegen bereits einen Preis verdient hätte. Anders als in handelsüblichen Bildbänden, wo Bild-Oppulenz oftmals Platzhalter ist für textliche Kargkeit, verdrängt hier die Form nicht den Inhalt. Vielmehr behält die inhaltlich-textfokussierte Ausrichtung auf den insgesamt 276 Seiten klar die Oberhand. Kritische Frage könnte so allenfalls die sein, ob bei aller Gipfelprotest-Nostalgie nicht die zu kritisierenden Punkte – oder generell: die Diskussion um die Bewertung der Proteste – notgedrungen ins Hintertreffen gerät. Dabei drückt sich »Das war der Gipfel« vor dieser Frage keinesfalls, im Gegenteil. Den weniger schönen Seite des Protests – der Ausnahme-Nacht im Hamburger Schanzenviertel und insbesondere den dort angerichteten Anwohner-Schäden – geht das Buch in Form eines Streitgesprächs auf den Grund. Der Abschnitt »Die zersplitterte Nacht« ist nicht nur der seitentechnisch umfangreichste. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Beteiligter – darunter ein Anwohner sowie ein Restaurantbetreiber aus dem Schanzenviertel – zeigt, dass speziell hier Diskussionsbedarf über den Tag hinaus besteht: um linke Mobilisierungsstrategie, ihre Inhalte, ihre Formen und letztlich auch ihre Feindbilder.

Gewalt, Macht, Widerstand

Einer der Diskussionsbeteiligten im letzten Abschnitt ist Andreas Blechschmidt, Anmelder der »Welcome to Hell«-Demo, Aktivist der Roten Flora und Autor der im Unrast Verlag erschienenen »Streitschrift um die Mittel zum Zweck«. Vermittelt »Das war der Gipfel« einen weitgehend positiven Blick auf die Hamburger Ereignisse, rückt »Gewalt, Macht, Widerstand« jene Vorkommnisse ins Zentrum seiner Betrachtungen, mit denen sich linke Argumentationsketten naturgemäß schwertun. Kritik, speziell linke, mußte er für seine Haltung – siehe dazu auch dieses ND-Interview – massig einstecken. Neben erfolgreichen, massenhaften und teils militanten Protesten war Hamburg für Blechschmidt eben auch: das versuchte In-Brand-Setzen einer Shell-Tankstelle, die anwohnergefährdende Brandstiftung von zwei Kietz-Geschäften, wahllose Plünderungen, Sachschäden sowie das Zerstören von rund anderthalb Dutzend Klein-PKWs. Ist das Glas halb voll oder halb leer? Auch Andreas Blechschmidt verfolgt über weite Strecken eine chronologische Beschreibungsweise – von den polizeilichen Aufrüstungsplänen im Vorfeld bis hin zum Verlauf der »Welcome to Hell«-Demo und der Beschreibung der Riots am Freitag. Allerdings: Während die Herausgeber(innen) von »Das war der Gipfel« einen heterogenen, auf Übersicht hin angelegten und eher beschreibenden Ansatz verfolgen, nimmt Blechschmidt die Gipfel-Ereignisse zum Anlass, um grundsätzlich die Bedingungen linker Intervention einer Generalkritik zu unterziehen.

Die zugespitzte Frage dabei: Wer ist das linke Subjekt, wenn im Verlauf von Kämpfen Arbeiter(innen) – oder auch Klein-Selbständige – unter die Räder geraten? Eine Frage, die im Anblick der weiter fortschreitenden Globalisierungstendenzen schwerer zu beantworten scheint denn je. Um linken Antwortmöglichkeiten zumindest näher zu kommen, begibt sich Blechschmidt im zweiten Teil seiner Streitschrift auf die Suche nach historischen Vergleichsmöglichkeiten. Fragestellung dabei: Wie haben historisch die Stationen ausgesehen, an denen sich von linker Seite aus (scheinbar) die Machtfrage stellte? Um das Ganze anhand konkreter Beispiele zu erörtern, unternimmt der Autor drei textliche Zeitreisen von Hamburg nach Paris – eine zur 1848er-Revolution, eine zur Pariser Kommune 1871 und eine zu den Auseinandersetzungen im Mai 1968. Der rote Faden dabei: Die Protagonist(inn)en an den aufgeführten drei Stationen – die Pariser Unterschichten im Februar 1848, Kommune-Vollzugsrat und revolutionäre Nationalgarden 1871 sowie die Pariser Studierenden 1968 – glaubten zwar subjektiv an eine revolutionäre Veränderbarkeit der Situation. In Wirklichkeit allerdings waren sie gefangen in einem Kräftespiel, das allenfalls im geschichtlichen Rückbild klarer erscheint.

Lapidar formuliert: Die Chancen zu gewinnen waren bereits bei den drei Beispiel-Konstellationen ziemlich begrenzt. Was bedeutet das jedoch für heute? Um aktuellen Aufständen näher zu kommen, führt Andreas Blechschmidt seine Auseinandersetzung mit revolutionären Kalkülen weiter mittels einer sezierenden Reise von Paris nach Reims. Provozierende Einstiegsthese hier: »Der radikalen Linken in Deutschland sind die Akteur*innen, die jede politische Veränderung politischer Verhältnisse braucht, abhanden gekommen.« Allerdings: Didier Eribons Erfahrungsbericht »Rückkehr nach Reims« ist hier lediglich der Aufhänger, um das abhanden gekommene Sich-in-Bezug-Setzen auf gesellschaftliche Klassen zu skizzieren – eine Form der Ratlosigkeit und auch Gleichgültigkeit, die Blechschmidt zufolge mitverantwortlich dafür ist, dass linke Ansätze speziell in Deutschland in der Dauerflaute stecken. Resummée so: Insgesamt hat Andreas Blechschmidt eine über weite Strecken stark theorielastige, ins Grundsätzliche gehende Streitschrift verfasst. Der Wille, link(sradikal)e Kriterien zu finden für Zwecke und Mittel ist ihr ebenso anzumerken wie die Wut über Marodeurs-Aktionen, welche ebenso fahrlässig wie vermutlich folgenreich die Falschen trafen. Im Kern ist sie so als Aufruf zu betrachten, die Bedingungen link(sradikal)er Interventionen stärker wieder zu kontrollieren, als es in Hamburg (zeitweilig) der Fall gewesen ist.

Fazit

Hinzuzufügen bliebe, dass die beiden vorgestellten Bücher nicht die einzigen Titel sind, welche die Hamburger Gipfelproteste aufbereiten. Relativ zeitnah publiziert wurden zwei weitere Titel: »G20. Verkehrsprobleme in einer Geisterstadt« (Edition Nautilus) und »Was war da los in Hamburg? Theorie und Praxis der kollektiven Aktion« (Laika Verlag). Die beiden in dieser Rezension vorgestellten sind aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen wegen des stark unterschiedlichen Ansatzes. Der zweite Grund ist der, dass gerade Riots, welche eine unkontrollierbare Eigendynamik entwickeln, eine solidarisch-linke Kritik unbedingt benötigen. Die Diskussion um Zweck, Mittel und Aktionsformen wird nicht nur den radikalen Teil der gesellschaftlichen Linken in Deutschland noch länger beschäftigen. Ebenso an steht die Frage, wie man die Löcher vermeiden kann, die zwischen den einzelnen Großmobilisierungen entstehen – und wie man dem Demobilisierungs-Sog, den unglücklich verlaufene Ereignisfolgen zur Folge haben, entgehen kann. Insofern sind die beiden vorgestellten Titel zwar nicht das perpetuum mobile linker Gesellschaftskritik. Allerdings nützlicher Lesestoff, der den letzten großen Gipfel thematisch vertieft.

Herausgeber(innen)gruppe GoGoGo: Das war der Gipfel. Die Proteste gegen G20 in Hamburg. Assoziation A, Hamburg/Berlin 2018. 276 Seiten, 24 €; ISBN 978-3-86241-461-1.

Andreas Blechschmidt: Gewalt, Macht, Widerstand. G20 – Streitschrift um die Mitel zum Zweck. Unrast Verlag, Münster 2019. 158 Seiten, 12,80 €. ISBN 978-3-89771-829-6.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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