2022 im Rock’n’Roll

Jahresrückblick Verglichen mit dem Vorjahr war 2022 etwas eine Hängepartie. Tocotronic, Little Simz, eine Außenseiterband namens Brent Amaker and Deathsquad, und was sonst noch popmusiktechnisch wichtig war in diesem Jahr.

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Das Privileg alter weißer Männer ist unter anderem der Umstand, dass sie – mitsamt ihren ebenfalls nicht mehr (so) jungen Pendants anderer Colors und Geschlechter – den neuesten Trends nicht mehr krampfhaft hinterherrennen müssen. Anders gesagt: Sind Pop, Rock, Hip Hop, Indie, Singer-Songwriter und so weiter weiterhin wichtig im Leben (oder sogar unabdingbar im Zeichen des selbstgewählten Rock’n’Roll-Lifestyles), kann man die Dinge einfach auf sich zukommen lassen. Frei nach diesem Motto (und sozusagen befreit von allen einengenden Konventionen) wollen wir so loslegen.

Bei mir kam und blieb Brent Amaker – aktuell mit seinem neuem Projekt Deathsquad. Wer oder was ist Brent Amaker? Zunächst einmal ein Country- und Rockabilly-Bolide aus einer Gegend, die für diese Art Musik nicht unbedingt berühmt ist: die nördliche Ecke der US-Westcoast mit ihrer Hipster-Metropole Seattle. Für mich entdeckt habe ich ihn anlässlich des Soundtracks der Serie Big Little Lies – ebenfalls nicht unbedingt ein Machwerk, für das sich Fans etwa von Yellowstone und den bodenständigen Klängen, die dort das Terrain bestimmen, unbedingt erwärmen würden. Der Knallerhit damals war Man in Charge – ein punktgenau im Johnny-Cash-Chickaboom-Stil gehaltener Rootscountry-Ohrwurm. Der von Amakers neuem Projekt Deathsquad mittlerweile in einer relaunchten Version vorliegt und so die gute Indie-Tradition fortsetzt, das Beste vom Repertoire nochmal in einem anderen Kontext aufzugreifen. Die meisten Einspielungen von Brent Amaker Deathsquad datieren aus dem Jahr 2020 – darunter auch eine Cover-Version des alten Iggy-Pop-Stücks The Passenger (siehe Clip oben). Und, wo wir schon beim Thema sind: Wer sich für die quirlige Rootsrock-Szene in den US-Bundesstaaten Washington und Oregon interessiert, ist mit einer weiteren Band aus der Region nicht schlecht bedient: Jenny Don't and The Spurs. Anspieltipp: der von der 2021-Veröffentlichung Fire On The Ridge stammende Titelsong.

Doch was war 2022 – also aktuell, in diesem Jahr? Ich will’s freiweg gestehen: Das Gros der veröffentlichten Neuerscheinungen ist interessetechnisch etwas an mir vorbeigezogen. Ex-White-Stripes-Frontman Jack White hat sich zwar mit gleich zwei neuen Alben alle Mühe gegeben und via Kraftakt sowohl die Kracher- als auch die Singer-Songwriter-Indie-Schiene abgedeckt. Allerdings: Irgendwie lassen sowohl Fear Of The Dawn als auch Entering Heaven Alive die songtechnische Dichte seines 2012er-Ausnahmealbums Blunderbuss vermissen. Doch widerstehen wir der Versuchung, päpstlicher als der Papst sein zu wollen: Obwohl etwas vom Ruhm der Spitzenleistung zehrend, ist If I Die Tomorrow (von Entering Heaven Alive) immer noch um Längen besser als das Gros dessen, was im Sektor Indierock 2022 auf den Markt geworfen wurde. Die beiden Ausnahmen von der Regel: die schwedische Postpunk-Truppe Viagra Boys mit ihrem Album Cave World und die Kompilation Revenge of the She-Punks. Bei ersterem handelt es sich um schnörkellosen Indie-Punk auf der Höhe der Zeit. Die Revenge-Kompilation wurde inspiriert durch ein Buch der Punk-Musikjournalistin und Musikerin Vivien Goldman. Neben musikalischer Qualität und dokumentarischer Ambition offeriert diese Schaffenssammlung eine stilistische Vielfalt, die auch weibliche Pioniere des Ska sowie R&B zwanglos mit eingemeindet und so zum Motto dieser Kolumne bestens passt: Wenn es gut ist, ist es auch Rock’n’Roll.

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Kommen wir zu den deutschen Landen. Wie immer sind Rammstein zuverlässig ihrer Provo-Pflicht nachgekommen. Das Album Zeit liefert getreulich das, was von dieser Formation zu erwarten ist. Ob die mit entsprechendem Aufreger-Appeal ausgestattete Videoauskoppelung zu dem gehört, was einen unter dem Weihnachtsbaum erwärmt, lasse ich an der Stelle dahingestellt – versehen mit dem Meinungsstatement, dass Gruppe und Bandleader Lindemann schon originellere Sachen abgeliefert haben. Das Album des Jahres kam im Januar: von Tocotronic, den letzten (wirklich) Übriggebliebenen der Hamburger Schule. Nie wieder Krieg! ist nicht nur ein Album ohne jegliche Hänger. Selbst Stücke mit nicht ganz so Tiefensinn-durchtränkten Texten (mal ehrlich: wer kommt mit Liebeskummer schon cool daher?) lässt man sich von den Hamburgern gerne gefallen – vor allem, wenn der dazugehörige Clip mit einer derart unbezwinglichen Hauptdarstellerin aufwartet wie Ich hasse es hier.

Überraschungen bietet immer wieder das Land zwischen Ardennen und Nordseeküste. Beispielsweise die Formation Warhaus – ein Sideproject des Balthazar-Sängers Maarten Devoldere. Der im November veröffentlichte Drittling Ha Ha Heartbreaker offeriert zwar nach wie vor die beste Leonard-Cohen-Stimme östlich der US-Ostküste. Maartens Weltschmerz-Assistentin, die schwedische Background-Sängerin und Modeleuse Sylvie Kreusch, war laut Liner Notes bei dieser Produktion zwar ebenfalls wieder mit von der Partie. Leider allerdings deutlich verhaltener als bei den beiden Vorgänger-Alben. Nichtsdestotrotz: Wer sich gepflegt seiner Melancholie überlassen möchte, für den oder die gibt es auf dem europäischen Markt kaum etwas Besseres als diesen Geheimtipp aus dem Land der Pommes und Trüffelpralinen. Anspieltipp: Open Window.

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Dass 2022 vor den Augen des Rückblick-Schreibers weniger Gnade findet als das Vorjahr, hängt unter anderem mit Zeitfenstern und Fleiß zusammen. Hip Hop sowie R&B haben – das muß man als Weißbrötchen neidlos zugestehen – das Rock'n'Roll-Jahr 2022 aus dem Gröbsten herausgerissen. Offensichtlich wollten vor dem Fest alle nochmal dabeisein. Little Simz, seit dem Hammer-Album Sometimes I Might Be Introvert aus dem Vorjahr nachgerade eine Ikone des gesellschaftskritischen Rap, hat mit No Thank You zwar einen würdigen Nachfolger hingelegt. Allerdings gilt für sie das Gleiche wie für Stripes-Altmeister Jack White: die Latte hängt nach zurückliegenden Spitzenproduktionen eben äußerst hoch. Da die Kolleg(inn)en von dem Musikmedien vermeinen, dass die Rapperin auf dem Neuling kompakter auf den Punkt kommt und auch sonst voll des Lobes sind, will auch ich No Thank You die Zeit geben, die das Album mit Sicherheit verdient. Als Orientierungshilfe an der Stelle ein Clip von der Vorgängerveröffentlichung: Point And Kill.

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Der Rest zum R&B-Jahresausklang: nur Freude. Wobei Stromae, ein weiterer Künstler aus Belgien, bereits zum Jahresanfang unter Beweis stellte, dass soulige Grooves, wertige Texte sowie ein Songwriting in der Tradition von Altmeister Jacques Brel mühelos zusammengehen. Anspieltipp an der Stelle: Tous les mêmes. Das Hip-Hop-Album des Jahres erschien ebenfalls (fast) punktgenau zum Fest: eine Co-Produktion von DJ Danger Mouse und Conscious-Rapper Black Thought mit dem Titel Cheat Codes. Schon aus Altersgründen bin ich nicht so der Fan trendig klingender Fachbegriffe. Lieber will ich es daher mit Lobeshymnen aus der Classic Line versuchen: Mit Cheat Codes stellen sich Danger Mouse und Black Thought in die Traditionslinie eines Ausnahmealbums von anno 1971 – What’s Going On von Marvin Gaye. Groove zum Ansehen und Anhören: Belize.

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2021 war Celeste, eine oder sogar vielleicht die würdige Nachfolgerin von Amy Winehouse. Leider hat Celeste 2022 kein Nachfolgealbum produziert zu ihrem vielbeachteten Vorjahres-Erstling Not Your Muse. In den Startlöchern steht allerdings Pip Millett – eine Britin, die sich gleichfalls auf das Metier Blue Eyed Soul versiert hat und dort durchaus die Chance hat, eine weitere Altmeisterin zu beerben – Sade. Ansonsten gilt für Pip Millett dasselbe wie für ihre Kolleg(inn)en Celeste und Stromae: die Texte bedienen nicht ausschließlich die Schiene Liebe, Sonnenschein und Tralala. Vielmehr durchmischen sie persönliche Erfahrungen mit allgemeingesellschaftlichen Beobachtungen. Anspieltipp – mit der Hinzufügung, dass auch einige der bislang bereits in der Tube befindlichen Clips hörens- beziehungsweise sehenswert sind: My Way.

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Das war das Jahr. Dass Konzert-technisch leider durch das vorhandene Budget mitbestimmt wurde. Was blieb: ein hochkarätiger Auftakt der 50th Anniversary-Tour von Ton Steine Scherben im Berlin–Kreuzberger SO 36, eine Clubkonzert der wieder zum Leben erweckten Achtzigerjahre-Frauenpunkband Östro 430 und, zum Jahresausklang, ein Auftritt der deutschen Singer-Songwriter-Legende Götz Widmann im Frankfurter Independent-Tempel Das Bett. Dass der Rock’n’Roll auch 2023 weitergeht, versprechen zumindest die einschlägigen Vorschau-Listen. Wobei auch 2023 sicher das ein oder andere Juwel mit dabei ist, dass zuvor keine(r) auf dem Schirm hatte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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