Liebe Linke …

Soziale Frage Richard Zietz schreibt einen offenen Brief an „die Linke“ – auf Augenhöhe

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Ich weiß nicht, liebe Linke, wie wohl du dich gerade in deiner Haut fühlst. Die neuen Wasserstandsmeldungen – etwa auf den Diskussionsseiten deines einzig noch verbliebenen Hauptmediums Neues Deutschland – künden eher von großer ideologischer Verwirrung als von Mut und Zuversicht im Anblick schwerer Zeiten. Doch keine Sorge: Schadenfreude ob dieses eher betrüblichen Zustandes ist nun wirklich nicht mein Ding. Mir purzeln lediglich fast im Tagesrhythmus Dinge über die Füsse, angesichts ich dich, liebe Linke und lieber Linker, am liebsten bei den Schultern greifen, rütteln und in angemessen mildem Tonfall den Hinweis anbringen würde: »SOFERN eine emanzipatorische und demokratische Überwindung des aktuellen Marktradikalismus noch dein Trachten ist, ist das eher KONTRAPRODUKTIV als PRODUKTIV.«

Um zu verdeutlichen, wovon ich rede, ein kleines Beispiel: der Bargeldverkehr, beziehungsweise sein anvisiertes Gegenstück – der bargeldlose Zahlungsverkehr. Dass letzterer nicht nur die Löhne, Transferleistungen und sonstige Einkünfte der unteren Schichten der Kontrolle von Banken und Behörden vollübereignet, ist faktisch nur schwer zu bestreiten. Ebenso die Tatsache, dass diese Form digitaler Umstellung satt Nachteile der demokratisch-bürgerrechtlich nicht zu verantwortenden Art mit sich bringt und speziell die Existenzen am unteren Ende in allerlei existenzielle Turbulenzen werfen wird. Kurz gesagt: Die Umstellung ist mit allerlei Unabwägbarkeiten verbunden, schadet »denen da unten« nachweisbar und Ergebnis am Ende ist nichts weiter als der totaltransparente, gläserne Bürger (Bürgerin: natürlich dito). Nun mag es trotzdem einen Grund geben, welcher Linkspartei und sonstige Linke dazu veranlasst hat, bei diesem Thema auf Tauchstation zu gehen: Den Schieflagegesetzen folgend haben sich zwischenzeitlich nämlich die Rechten dieses Themas angenommen (siehe auch dieses Loblied auf den bargeldlosen Verkehr in der HoffPost). Unmittelbare Folge dieser Schieflage ist, dass auch ich als (argloser) Unterschriftenleister unter eine der seinerzeitigen Petitionen seither mit Mail-Spam zwecks Flucht ins Gold, Investitionstipp-»Bestseller« und so weiter vollgemüllt werde.

Crazy, die Welt. Man kann, liebe Linke und lieber Linker auf Augenhöhe, natürlich sagen: Selber schuld. Sowas kommt zwangsläufig, wenn man die Segnungen von Zahlgeräten und Chips nicht erkennen kann oder mag. Als wohlbestalltes, sicher öffentlich fest angestelltes Mitglied der GEW könntet ihr auch Erkenntnisse jener Art von euch geben: Das ist ein Fliegenschiss im Anblick der großen Zeitfragen, die aktuell vakant sind. Dass ihr, liebe Linke, in vollem Bewusstsein dabei seid, sämtliche Fäden abzukappen zu all jenen, die – frei nach Mao Tse Tung – das potenzielle Wasser wären, in dem ihr als Fische schwimmt, zeigen mir ebensosehr die periodisch auch in diesem Medium wiederkehrenden Attacken gegen Popkultur im Konkreten sowie die guten Werte von Widerborstigkeit und Renitenz im Allgemeinen. Wobei gerade auf diesem Terrain das Ergebnis ein Volldesaster ist. Kurz gesagt: Früher haben die Linken rebelliert (auch du, liebe Linker und du, liebe Linke). Heute seid ihr, mal auf Augenhöhe gesprochen, die Hausmeister, Blockwarte in spe und Spaßbremsen – und fühlt euch wohl dabei. Wie beispielsweise der aufgeräumt wirkende Herr Seeßlen, der etwa bei 3sat über den (von ihm selbst eifrig herbeigeschriebenen) »Untergang der Popkultur« parliert. Groovt total.

Bestes Beispiel jedoch ist die Seuche der Netzkultur, der sich auch der Freitag seit längerem wolllüstig in die Hände begeben hat. Keine Sorge – die Mode, rein nach Tagesform bestimmte Bevölkerungsgruppen herauszugreifen und mit einem zünftigen redaktionellen Bashing zu überziehen, will ich an der Stelle nicht aufspießen. Ebensowenig auch den kommunikativ zwischen unakzeptabel und übergriffig changierenden Ton in diesem diesem aktuellen »Ab 5:45 Uhr wird zurückgeschossen«-Pamphlet aus der netzgenderistischen Ecke. Ich frage mich allenfalls, wie man mit dem Einleitungssatz »Endlich! Endlich fühlst du dich unwohl in deiner Haut« beim imaginierten Gegenüber die nötige Minimalbereitschaft wecken will, sich mit dem Folgenden inhaltlich auseinanderzusetzen. Nicht weiter kommentieren möchte ich die die nach dieser Einleitung erwartbare Rückführung auf tausend Jahre, Evas bzw. Adams Rippe und so weiter oder die mir jedenfalls abenteuerlich erscheinende Behauptung, Männer im Mittelalter hätten kein Geschlecht gehabt (wo jede Folge von Game of Thrones, nunja, ziemlich Gegenteiliges unter Beweis stellt).

Wirklich trostlos in all ihrer tristen Bereitschaft, sich mit den Systemgegebenheiten zu arrangieren, fand ich allerdings die mit viel Ellbogen-Einsatzbereitschaft verfassten Sozialdschungel-Anleitungen am Artikelende: »(…) Hälfte-Hälfte heißt erst einmal, dass vor allem du Nachteile hast, bis wir die Quote erreichen. Es heißt, dass du bei deiner Bewerbung mal nicht genommen wirst – wegen deines Geschlechts. Dass du mal nicht die Beförderung bekommst – wegen deines Geschlechts. Dass du mal nicht auf das Podium darfst, mal nicht den Artikel schreiben darfst – wegen deines Geschlechts.« Dass sich die linken Reihen bei dieser Darbietung an uncamoufliertem Sozialkampf quasi per »Automatik« reduzieren und die Proleten / Prekären entsetzt bei den Rechten Deckung suchen, wird die Autorin und ihre Cloud allerdings am wenigsten verwundern. Voraussetzung dafür wäre, dass es für ebendiese wenigstens noch Begrifflichkeiten gäbe. Wo Karriereentität A und Karriereentität B jedoch allein auf weiter Flur sind, kann es solche nicht geben. Was bleibt, ist der Showdown – zwischen Mann und Frau, oder zwischen wem auch immer. Wichtig allein ist, wer auf dem Boden liegen bleibt.

Womit wir bei Toni Erdmann wären – jener Zustandsbeschreibung der deutschen Tristesse, die man gut oder schlecht finden kann, in der die Heulsusigkeit des pseudohumanistischen Bürgertums Marke öffentlicher Dienst jedoch ebenso auf den (kaum noch zu ertragenden) Punkt gebracht wurde wie der Karrierebrutalismus und die Anpassungsbereitschaft der nachfolgenden »Generation Business«. Die man mit der wohlwollenden Brille eines neoliberalen Schreiber-Samurais wie Jan Fleischhauer (also eines echten Samurai) als Samurai der internationalen Kapitalflüsse ansehen könnte – wäre da nicht die 250prozentige Selbstaufgabe und der damit verbundene Sklavenwille, einen neuen Job in China als das höchste der möglichen Glücksgefühle anzusehen.

Das, liebe Linke in und außerhalb der Partei, wollt ihr nicht sehen. Ihr habt nicht nur den Blick auf die prekäre Wirklichkeit verloren und die Prekären dahinter. Längst abhanden gekommen ist euch auch das Gespur, das feeling für das, was (gesellschaftlich) anders zu machen wäre, anders sein könnte – nicht erst übermorgen, sondern, als Startvoraussetzung, bereits jetzt. Das, liebe Toni Erdmanns und Ines dieser Welt, sage ich euch,

der für die letzte Zeile keinen pseudopathetischen Heulsusensatz benötigt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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