The Ghost of John Lennon

Popmusik Trotz weltweiter Kriege und prekärer Lagen: Die Popmusik ficht das nicht an. Im Gegenteil. Was Balthazar, Fontaines D.C. und eine Chanteuse namens Iliona mit den Fab Four zu tun haben, beschreibt dieser Beitrag.

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Bukahara mit ihrem Indie-Hit »Happy«. Die Worte dazu folgen im letzten Textabschnitt.

Die alte – wenn auch nur noch wenig mit Alltagspraxis angereicherte – These, Pop, Rock, Hip Hop & Co. seien Transformatoren in Richtung einer irgendwie besseren Welt, wird in diesem Herbst erneut einer schweren Prüfung unterzogen. Im Grunde befinden sich alle in einer Art Zeitschleife – Popfans ebenso wie die weltweite Mehrheit der an ihr weniger Interessierten. Frage: Sollten die Töne nicht schweigen, wenn Schlimmes, extrem Schlimmes gar passiert wie aktuell in diesen Tagen? Zumindest die Geschichte hat ihre Antworten darauf bereits eingereicht, und die lauten: Nein! Der Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg ging einher mit den Karrierestarts von Glenn Miller, Peggy Lee und Frank Sinatra; den (zeitkritischen) Sound zum Vietnamkrieg lieferten bekanntlich Jimi Hendrix, die Rolling Stones und Creedence Clearwater Revival. Und beim Fall der Mauer? Da wird auch irgendjemand gespielt haben – ganz sicher.

Erhärten lässt sich derzeit eher die hartgesottene Zwillingsschwester der eingangs aufgeführten These – die, dass schlechte Zeiten gemeinhin gute Zeiten sind für Musik. Mitgedacht oder »mitgelesen« natürlich: deren guter, populärkultureller Teil – auch wenn, nach Eichingers Endzeit-Epos Der Untergang, Eva Braun & Co. im Bunker noch einen Swing-Dance aufs Parkett gelegt haben sollen. Nun hat jede Zeit ihre Zarah Leander und ihre Marlene Dietrich. Heißt: auf Davon geht die Welt nicht unter folgt zuverlässig ein Evergreen wie Lili Marleen – ein Song also, der den Friedenswillen und allgemein die Sehnsucht nach besseren Verhältnissen in Melodie und Worte fasst. Die besseren Stimmen in diesen Tagen kommen von den altgedienten Formationen der Sechziger Jahre schlechthin – den Beatles und den Stones. Wobei – das nur am Rande, wenn auch nicht gänzlich unbedeutend – Digitaltechnik nicht unerheblich am Gelingen von Now And Then und Hackney Diamonds beteiligt war.

Lange Rede, kurzer Sinn: Auch diese Tage wird die Frage nach der Sinngebung von Popmusik so lange ins Leere laufen, wie sie sich am Sinngebungsrahmen etwa der Tagesschau festhält. Sicher – auch der popmusikalisch-subkulturelle Protest (oder zumindest die Kritik) ist derzeit nicht unansehnlich aufgestellt. Antworten auf die dadurch aufgeworfenen Sinnfragen wird allerdings nur finden, wer sich auf die Fragestellungen, die Anliegen, die Sounds und letztlich auch das Ungesagte beziehungsweise Angedeutete einlässt. Womit wir mitten im Thema wären. Die aktuell vorgefundene Ausbeute an neuen beziehungsweise auch nicht mehr ganz so neuen Songs & Clips ist nämlich derart reichhaltig, dass es zumindest schade wäre, sie trüber Allgemeinumstände wegen dem Vergessen zu überantworten. Im musikalischen Line-up dieses Beitrags dominierend: der Schmerz und der Zorn der – irgendwie – fortschrittlichen weißen Jugend. Vorgestellt wird entsprechend: Indie & Postpunk; dazu Ska, Electro-Pop sowie, als Ausklang, ein schönes Chanson.

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Beginnen wir mit Odd Couple – einer Berliner Band, die, so Wikipedia, einen ausgreifenden Stilmix pflegt zwischen Progrock, Krautrock und Garage. Wurstige Slogans wie »Haste Strom haste Licht Tour« (2016) sowie Kritik an der Generation Z, deren Engagement letztlich nur möglich sei durch Zuwendungen derer, deren Lebensstil sie einer Generalkritik unterziehe, weisen allerdings nicht unbedingt in die Richtung unpolitische Innerlichkeit. Textlich-soundtechnisch nehmen Odd Couple eher Maß an Vorbildern der Sorte Trio, Ideal sowie (mit einigen Abstrichen) Tocotronic. Anspieltipp: Dübelmann (Clip oben), und auch das restliche Repertoire der Truppe wie zum Beispiel Fahr ich in den Urlaub rein klingt vielversprechend. Ähnliches gilt für Grossstadtgeflüster – eine Elektropop-Formation, die gleichfalls aus Berlin kommt und mit ihrem Minimaltechno-fokussierten Sound an Stereo Total erinnert, die Formation der vor zwei Jahren verstorbenen ST-Mitbegründerin Françoise Cactus. Angesichts der musikalisch dargelegten Kündigungsabsichten (siehe Clip unten) – ist zumindest eines klar: So lange diese Form subjektivistisch-alternativer Club-Kleinkunst beständig (und aktiv) mitmischt, haben die globalen Big Player noch nicht gänzlich gewonnen.

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Um Altgediente im internationalen Postpunk-Geschäft handelt es sich bei Fontaines D. C. aus Dublin. Die fünfköpfige Band, die ihre Lebensmittelpunkte zwischenzeitlich in Belfast und London hat, offeriert einen Sound, der sich irgendwo zwischen Britpop Marke Oasis (große Betonung auf Oasis) und Spät-Wavern der Sorte Slowdive verorten ließe – wäre da nicht eine spezielle, schnelle, undergroundige Text-, Musik- und Bildsprache, die einen unwillkürlich an Grunge, Seattle, die Neunziger und den letzten musikalischen Aufbruch (jedenfalls in der Rockmusik) denken lässt. Entsprechend schwer gestaltet sich auch die Auswahl der (alle phänomenal guten) Clips. Unbedingte Anspieltipps: Boys In The Better Land und Jackie Down The Line. Unten zu sehen: A Hero’s Death – ein Clip, der nicht nur eine gitarrengetriebene, gekonnt auf Disharmonien setzende Punk-Melodik in Szene setzt, sondern ebenso eine dystopische drei-Minuten-Geschichte, deren Open End einen unwillkürlich an Filme wie Joker denken lässt.

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Kommen wir zum Guten, Schönen, Wahren – konkret: zu der belgischen Formation Balthazar. Die (meiner Meinung nach) beste Band Belgiens hatte in der zweiten Hälfte der Zehnerjahre eine Pause hingelegt – eine Pause, in der Violinistin Patricia Vanneste die Gruppe verließ und die beiden Sangesleader – Maarten Devoldere und Jinte Deprez – sich ihren Sideprojekten Warhaus respektive Soloveröffentlichungen widmeten. 2019 erschien, als viertes Album, Fever; seither sind zwei weitere hinzugekommen (und auch Devolderes Sideprojekt Warhaus fand diese Tage Zeit für eine neue, aktuelle Single-Veröffentlichung). Die unterschiedliche musikalische Gewichtung der beiden Frontmänner – Devoldere in Indierock und Chanson Marke Tom Waits, Deprez unter anderem im zeitgenössischen RnB – hat über die Jahre zu einem Sound geführt, der ebenso abwechslungsreich wie aus einem Guß ist. Das Problem mit der Clipauswahl – hier vielleicht noch mehr als bei Fontaines D. C.: Changes (siehe Clip unten) transportiert das Lebensgefühl, dass diese Band vermittelt, vielleicht mit am besten. Reinhör- und Reinseh-Tipp darüber hinaus: Leipzig – ein Song, der bereits etwas älter ist und lediglich als Single veröffentlicht wurde. Letzter Anspiel- bzw. Ansehtipp: der auf Gran Canaria eingespielte Clip Fever.

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Punk und Indierock allerorten – was ist da naheliegender als eine Originalgruppe aus der großen Zeit des britischen Punk- und New-Wave-Movements? The Interrupters sind beides nicht: Weder kommen sie aus dem United Kingdom, noch waren sie bereits 1977 ff. mit am Start. Hört man ihren eingängigen Ska-Punk (oder erlebt ihn, wie etwa diesen Sommer im Saarbrücker Liveclub Garage, eben live), will man es kaum fassen, dass diese, den Working Class Pride des britischen Ska & Northern Soul so authentisch rüberbringende Formation aus der US-Westküstenmetropole Los Angeles kommt. Auch hier das bereits angesprochene Empfehlungsproblem: die Clips sind eigentlich zu gut, um einen von ihnen hervorzuheben. Darum an der Stelle wenigstens der Verweis bzw. Link auf das Billie-Eilish-Coverstück Bad Guy sowie einen weiteren Titel, She’s Kerosene. Abschließend ein Interrupters-Stück, in dem die 77er-Punk School zu 75 Prozent präsent ist und der Ska-Anteil lediglich in den Zwischentönen rund um die 25-Prozent-Marke auszumachen ist – Take Back The Power:

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Selbstermächtigung – klingt gut in Zeiten, in denen die Kontrolle über die kleinen eigenen, individuellen Leben zunehmend abhanden kommt zugunsten von Mächten, die man in der Form seit längerem nicht mehr auf dem Schirm hatte. Bewältigungsstrategien gibt es unterschiedliche; musikalisch ist das Chanson sicher eine davon. Coolen wir also runter, schalten um zum klassischen Popkultur-Bestand und einer Chanteuse, die ihren Platz in der francophonen Post-Nouvelle-Chanson-Ära erst noch finden muß: Iliona. Moins joli klingt nicht nur klassisch wegen der Fokussierung auf Stimme und Klavier. Auch die Fokussierung auf Sängerin und Instrument sowie der Verzicht auf Farbe vollführen – im positiven Sinn gemeint – einen Sprung in die Sechziger.

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Womit wir bei John Lennon angelangt wären – dessen Witwe sich einer möglichen Haftentlassung von Lennons Mörder übrigens bis heute entschieden entgegenstemmt. Und den biblischen Sitten, die allgemein das aktuelle Weltgeschehen bestimmen. Bukahara – einer Kölner Folk-Formation, die arabisch- ebenso wie jüdischstämmige Musiker in ihren Reihen hat, gelang mit Happy (siehe Clip Artikelanfang) 2020 ein veritabler Indie-Hit. Ob er Ihnen präsent ist oder bislang noch nicht über den Weg gelaufen, ist schwer zu sagen; der Begriff »Indie-Hit« hat seine naheliegenden Unabwägbarkeiten. Irgendwie bringt die Inszenierung allerdings etwas auf den Punkt, was innerhalb der Popmusik so etwas wie ein stetiger roter Faden ist – ein allgemeines Plädoyer für Humanität, Respekt und Vielfalt. Ohne die Popmusik wenig mehr wäre als eine frischfrohfreie Schlagerparade mit Texten, bei denen sich jede weitere Nachfrage erübrigt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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