Biographie und Blues

Joy Fleming Die Erinnerungen der Frau mit der mächtigen Stimme sind schon vor einiger Zeit erschienen. Ich erinnerte mich bei der Lektüre auch an die eigene Kindheit.

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Eigentlich ein ziemlich schlampig gemachtes Buch mit grauem Papier und schlechten Fotos. Aber gerade dadurch einnern sie genau an die Zeit, in der die Heldin dieser Biographie ihre Kindheit lebte: Die 50er Jahre .

Die Erinnerungen und Anmerkungen der großen Blues- und Rocksängerin Joy Fleming Über alle Brücken sind in einem kleinen Verlag erschienen. Ein Journalist hat lange Gespräche mit ihr geführt und dann – mit ihr zusammen – diesen Rückblick auf ihr Leben und den aktuellen Blick in die Welt herausgegeben. Sie ist vor kurzem 70 geworden

Ich musste mich nicht lange fragen, warum mir das Buch so nahe ging. Es ist dieser Rückblick auf die Kinderzeit. Eine Kindheit, wie ich sie im Grund auch aus dem Nachkriegs-Leipzig kenne. Zu Hause war wenig Raum, darum die ständige Suche nach dem Platz für das Abenteuer. Bei uns in der Josephstraße, über die ich schon geschrieben habe und den Abrisshäusern der Umgebung. Bei Erna Raad in Mannheim unter den Trümmern der Hindenburgbrücke, die aber später Jungbuschbrücke heißt.

Dort treiben sie sich alle herum, auch die Liebespaare, und ersparen den Kindern aufwändige Aufklärungsmanöver. Die wissen früh, „wie es geht“. Ähnlich in Ost und West auch die Armut jener Zeit, der ständige Hunger, wobei damals nicht mehr ganz so existenziell, sondern eher die beginnende Lust an besonderen Geschmacksrichtungen wie Coca Cola im Westen, im Osten Fassbrause.

Ein lebenslanges Trauma

Aber in der Mannheimer Familie von Erna Raad herrschte ständige Gewalt des Vaters gegen die Mutter und die Kinder – ein Trauma, das lebenslang bleibt.

Der Vater strafte methodisch und schmerzhaft, seine Erziehungsmaßnahmen hinterließen solche Spuren, dass es sogar in einer Schule der fünfziger Jahre in Westdeutschlands Nachfragen gab. Sie hat noch heute Narben davon. Meine Kindheit verlief ohne Schläge, die Mutter hatte gar keine Kraft dafür. Heinrich Bölls Roman "Haus ohne Hüter" beschreibt meine Empfindungen. Denn bei uns fehlte er - der Vater. Das war anders als in Mannheim - dort war der Vater schmerzhaft gegenwärtig und wurde doch auch geliebt. Dennoch: die 50er Jahre hatten ein gesamtdeutsch-einigendes schwarz-weißes Ost-West-Gefühl von Trümmern und Tristesse, an das ich mich als Kindheitsgrundierung erinnere und sofort bei mir wachrufen kann.

Trotz allem liebt Joy Fleming ihre Mutter. Sie liebt sie, obwohl sie die Kinder vor den fürchterlichen Schlägen des Vaters nicht schützte. Und auch ich liebe meine Mutter und kann erst heute ihre Tapferkeit gerechter würdigen als früher.

Es ist nicht allzuviel von Joy Flemings Musik in der Biographie zu lesen. Aber, es wird trotzdem deutlich, dass einzig Musik der Ausweg und ihr Leben wurde. Zuerst sang sie in GI-Clubs, wurde rasch bekannt und baute sich - mit ihrer mächtigen Stimme – die Brücke in die Welt. Die Erinnerung an die Kindheit „liegt“ - trotz mancher Ausflüge in die Rock- Pop- und Schlagerwelt - in ihrem Blues.

Joy Fleming/Horst Wörner: "Über alle Brücken - Erinnerungen". Gerhard Hess Verlag. 152. S., zahlreiche Fotos, 18.90 Euro.

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Geschrieben von

Magda

Immer mal wieder, aber so wenig wie möglich

Magda

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