Eine neue Lage im "Arbeitsmarkt"

Ruth und Bubi Auf Flohmärkten finden sich oft achtlos fortgeworfene Briefe aus Nachlässen. Dabei erzählen sie manchmal wundervolle Geschichten. Diesen sei hier Raum gegeben

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Eine neue Lage im "Arbeitsmarkt"

Berlin-Pankow, am 1.8.57
(170)

Meine Gute, liebes kleines Ruthchen!

Darf ich Dich für ein paar Minuten von der Wäsche abhalten? - Eigentlich wollte ich heute ins Kino gehen, aber nicht einmal "Die schönen Mädchen von Florenz" haben mich aus dem Zimmer locken können. Lieber will ich "auf dem Papier" einige Zeit mit Dir plaudern. -

In 9 langen Tagen kann ich erst wieder bei Dir, mein lieber kleiner Räuber, sein. Du glaubst immer wieder, die wöchentliche Fahrt wäre mir zu viel oder würd mir zu viel abfordern. Viel mehr zehrt aber an mir ein Sonntag, der unserem gemeinsamen Erleben entgeht. So notwendig mein Besuch in Heidelbach über das Wochenende ist; viel, viel lieber wäre ich bei Dir. Und das einfach deswegen, weil ich ohne Dich eben nur ein halber Mensch bin. Gewiß, es zieht mich auch wieder einmal nach Schwartenberg. Lebte meine Mutter noch, so wäre es sogar möglich, daß ich manchmal Heimweh hätte. Nun erwartet mich aber vor allem die traurige Erinnerung am Grabe der Mutter - und dazwischen klingt die Sorge um eine dadurch zerrissene Familie. Wohl sind es Vater, Schwester und Brüder, die ich besuche, doch ich gehöre jetzt zu Dir und für sie kann ich nicht mehr als der Verwandte sein. Wenn es auch zwangsläufig so werden musste, hat sich doch durch die räumliche Trennung seit 1950 schon ein unmerklicher Übergang herausgebildet. Es kann auch gar nicht anders sein im Leben. Sobald die Kinder einer Familie heranwachsen und flügge sind, ergibt sich ein ganz anderes, individuell ausgeprägtes lockeres Verhältnis. Fällt dazu in diesem Stadium noch die die Mutter als Haupt der Familie weg, wird die Verbindung sehr lose. - Es wäre wohl etwas anderes, würden wir beide uns nicht so gut verstehen. Ich würde aber nie etwas tun, was uns beide auch nur für eine kurze Zeit entwöhnen oder befremden könnte, um vielleicht im Vaterhaus nur zeitweilig etwas auszugleichen. - Dafür bin ich zu sehr Egoist und freue mich jedesmal auf die Zeit, die wir zusammen sind und über jede Stunde, die uns mehr zur Verfügung steht, wirklich von ganzem Herzen.

Du wirst jetzt fragen, ob ich auch ehrlich bin, weil... es ist ist wegen des in halber Tiefe geteilten Küchenschrankes und sonstigen Plänkeleien. - Du und ich, beide waren wir uns darüber klar, daß wir nicht mit gleichen Gedanken und Ideen zur Welt kamen. Dazu kommt, daß wir sie konsequent vertreten, bis wir anders überzeugt sind. Bei mir dauerts ja des öfteren recht lange, aber das siehst Du mir ja nach, meine Gute. -

Inzwischen hat sich eine neue Lage im "Arbeitsmarkt" herausgebildet. Durch eine Meinungsänderung des Ministers für Allgemeinen Maschinenbaues ist die Umbildung der Kreiskontore in Frage gestellt. Es kann sein, daß nach der Auflösung die Aufgaben an andere Handelssäulen ausgegliedert werden. Damit stünde für mich ein Arbeitswechsel so gut wie fest. Dazu kommt, daß, wie mir inoffiziell bekannt wurde, eine Kündigungs- und Einstellungssperre für die Ministerien verhängt wurde. - Das Ministerium für Verkehrswesen hat auch noch nichts von sich hören lassen. Im Laufe der nächsten Woche werde ich mal leise anfragen - Na es wird schon gut ausgehen. Ob ich dann allerdings hier in Berlin bleiben könnte, wenn ich woanders anfangen muß, ist fraglich. Nur Mut, es wird schon gehen. - Meist sind das ja Parolen oder mehr bzw. weniger gute Pläne und Absichten, die sich nicht verwirklichen lassen. Mit der Auflösung der Kreiskontore geht man ja auch schon seit 4 Jahren um. - Falls ich im Min. L.u.F. bleibe, ich habe ich vor, an einem Englisch- oder Französisch-Lehrgang des Ministeriums teilzunehmen. - Doch darüber mündlich mehr.

Meine Gute, Du willst nun etwas von meiner Reise über das Wochenende erfahren. Morgen bin ich in Karl-Marx-Stadt, übermorgen in Karl-Marx-Stadt, übermorgen in Karl-Marx-Stadt und beim Kreiskontor Freiberg. Gegen 19 Uhr bin ich dann in Heidelbach. Den Sonntag werde ich wohl auf dem Feld verbringen und mir die Sorgen anhören, die die "Parteien" haben. Am Montag fahre ich dann nach Berlin zurück. Von unterwegs bekommst Du ein paar Zeilchen. -

Liebe und kleine Borschte(?), wie denkst Du darüber, daß wir wieder einmal tanzen gehen? - Eigentlich waren wir schon lange nicht mehr auf dem Tanzboden - oder besser Parkett -, wenn wir von dem Besuch im Café Prinz absehen. Wie wäre es übermorgen in einer Woche damit? - Bitte sage aber nur nicht deshalb ja dazu, weil ich es so direkt anfrage. Falls Du keine Lust dazu hast, verschieben wir es auf einen späteren Sonnabend oder Sonntag. - Ich werde am 10.8 mit dem ersten Zug kommen, damit wir noch rechtzeitig gehen können, falls nichts anderes vorliegt. - Vielleicht ist es für längere Zeit zum letzten Mal in Weimar, denn ich hoffe zuversichtlich darauf, Dich bald bei mir zu wissen. Du auch? Hoffentlich klappt es! - Deine Bedenken wegen des Besuchs bei Rosenbergs sind nach meiner Meinung nicht begründet. - Du siehst das doch etwas zu schwarz und beziehst alle negativen Momente auf Dich bzw. versuchst, sie mit Dir in Zusammenhang zu bringen. Dabei will ich natürlich nicht bestreiten, dass Du ein feineres Einfühlungsvermögen besitzt als ich, aber im vorligenden Falle wie auch in der Frage: "Ich setz den Fall..." hast Du wohl falsch getippt. -

Liebes Ruthchen, sei mir, bitte nicht böse, wenn ich bald meine Glieder in das Bett "schichte". Bitte zürne auch nicht, wenn ich etwas langatmig oder langweilig geschrieben habe, das liegt leider in mir und ist nicht so schnell herauszubringen. Wenn Du ein wenig Zeit hast, denke ein bißchen an mich und verzage nicht. Bald - in neun Tagen - bin ich wieder bei Dir. Freust Du dich auch so darauf wie ich?

Ganz lieb und (Stenographie-Zeichen) grüßt (Stenographie-Zeichen) Dich (Stenographie-Zeichen)

Dein Bubi

(Stenographie-Zeichen)

Viele liebe Grüße auch an Mutti und Vati.

Alle Briefe von Bubi an Ruth gibt es hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Maike Hank

Die Eulen sind nicht, was sie scheinen.

Maike Hank

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden