Frau ist nicht behindert, frau wird behindert

Inklusion Frauen mit Behinderung berichten am Welttag der Menschen mit Behinderungen von den Barrieren im Alltag, denen sie begegnen

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Frauen mit Behinderungen sind zwei bis dreimal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als nicht-behinderte Frauen
Frauen mit Behinderungen sind zwei bis dreimal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als nicht-behinderte Frauen

Foto: Marianne Fobel

Als Toyin Aderemi ein Kind war, wurde ihren Eltern von Familienmitgliedern geraten sie wegzugeben. Das Mädchen sei aufgrund ihrer Behinderung von einem bösen Geist besessen und aus ihr könne nichts werden, so die Verwandten. Glücklicherweise sahen ihre Eltern das anders, obwohl in Nigeria – so wie in vielen Teilen der Welt – Behinderung noch immer als Fluch oder mindestens als Stigma gilt.

Nicht jede Geschichte ist so drastisch, wie Aderemis. Doch sie ist symptomatisch für Gesellschaften weltweit, in denen Mädchen und Frauen mit Behinderungen als minderwertig betrachtet, unterschätzt und ausgegrenzt werden.

Ob in der Politik, in Unternehmen, in Medien und Kultur – die Stimmen von Frauen mit Behinderungen sind in der Öffentlichkeit häufig unterrepräsentiert oder gar völlig abwesend. Dabei hat weltweit eine von fünf Frauen eine Behinderung. Allein in Deutschland leben laut Robert Koch Institut und Statistischem Bundesamt 3,8 Millionen Frauen mit Behinderungen.

Fragt man nach dem Anteil an Journalistinnen mit Behinderungen in verschiedenen Medien, dann trifft man oft auf ratlose Mienen. Und prominente deutsche Frauen mit Behinderungen? Den wenigsten Menschen werden wohl auf Anhieb zehn Personen einfallen.

Barrieren in der #metoo Debatte

Auch in der #metoo Debatte – eine der öffentlichkeitswirksamsten Debatten über Gewalt an Frauen – sind Frauen mit Behinderungen kaum präsent. Dabei sind sie zwei bis dreimal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen als nicht-behinderte Frauen, so Martina Puschke von Weibernetz, einer politischen Interessenvertretung behinderter Frauen in Deutschland. „Die massive Gewalterfahrung von Frauen mit Behinderungen in Heimen und Internaten war überhaupt kein Thema“, kritisiert Puschke. Dahinter stünden auch strukturelle Barrieren. Medien behandelten Frauen mit Behinderungen zu häufig als Nischen- oder reines „Behinderten“thema, so Puschke.

Doch auch die Politik müsse die Lebensrealität von Frauen und von Menschen mit Behinderungen konsequent berücksichtigen. Es brauche eine Diversity-Politik, so Puschke, die Maßnahmen ergreift um beispielsweise Barrieren beim Zugang zu medizinischer Versorgung zum Arbeitsmarkt, zur Bildung, zu Gebäuden abzubauen. Auch die „Sonderwelten“ für Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft müssen endlich wieder abgebaut werden, erklärt Puschke.

Auch Sprache behindert und grenzt aus

Dazu gehören auch die Sonderwelten in der Sprache, die unsere Wahrnehmung prägt. Sprache erzeuge Barrieren in den Köpfen, so Ninia LaGrande. Die deutsche Poetry Slammerin und Autorin hat es satt auf der Straße „behindert! Mongo! Spasti!“ als echte oder ironisierte Schimpfwörter zu hören. In ihren Texten arbeitet sie die Barrieren und Abgründe der deutschen Sprache auf und reflektiert auch ihre Erfahrungen als kleinwüchsige Frau. Weil Sprache unsere Wahrnehmung präge, erzählt sie, sei es besonders wichtig, wie wir über Inklusion und Behinderung kommunizieren. „Es ist ein Unterschied, ob ich von ‚Behinderten‘ oder von ‚Menschen mit Behinderung‘ spreche. Zweiteres lässt nicht die Behinderung als einziges Merkmal erscheinen. Sprache lässt Bilder im Kopf entstehen und prägt dadurch unsere Wahrnehmung“, so LaGrande.

Barrieren in den Köpfen überwinden

Toyin Aderemi aus Nigeria hat entgegen der Vorurteile in der Gesellschaft inzwischen erreicht, was immer noch eine Ausnahme für viele Menschen mit Behinderungen weltweit ist: Sie hat studiert. Als erste Rollstuhlfahrerin in Nigeria hat sie ein Pharmaziestudium absolviert – und mit Doktortitel abgeschlossen. Doch Gebäude, Hörsäle und nicht barrierefreie Toiletten waren mitunter unüberwindbare Barrieren für die Pharmazeutin und Wissenschaftlerin.

Auch heute achte sie noch genau darauf, wohin sie für wie lange fährt. Denn es gibt kaum barrierefreie Toiletten in Nigeria und sie kann daher nicht länger als zwei Stunden unterwegs sein ohne zu wissen, wo die nächste Toilette ist. Gerade für Frauen und Mädchen kann fehlende Barrierefreiheit von Sanitäranlagen ein Grund sein, warum sie frühzeitig die Schule abbrechen – denn auch an Schulen und in anderen öffentlichen Gebäuden sind häufig keine barrierefreien Toiletten vorhanden. Auch in Deutschland und ganz Europa besteht in diesem Bereich noch großer Nachholbedarf. Unlängst beschrieb die paralympische Athletin Anne Wafula Strike, wie sie nach einer dreistündigen Zugfahrt ohne Behindertentoilette gezwungen war, sich in die Hose zu machen.

„Wir sind nicht behindert, wir werden behindert“

Vor allem die Barrieren in den Köpfen der Menschen waren es, die Toyin Aderemi während ihres Studiums und ihrer Karriere besonders zusetzten. Viele an der Universität hielten es für unmöglich, dass eine Frau im Rollstuhl ein Studium im Gesundheitsbereich schaffen könne. Sie solle doch Sonderschulpädagogik studieren, denn das habe mit Behinderung zu tun. Ein gängiges Vorurteil gegenüber Menschen mit Behinderungen – dass sich auch ihr berufliches Leben nur um Behinderung drehen müsse.

Frau ist nicht behindert, frau wird behindert – von der Gesellschaft und ihren Barrieren. Das sagt auch Toyin Aderemi, die sich dafür einsetzt, dass sich Stück für Stück die Meinungen zu Inklusion und Behinderungen ändern. „Die wirklichen Behinderungen sind die Vorurteile der Menschen, die Überzeugung der Gesellschaft, dass wir nichts schaffen können“, erzählt Aderemi. Deshalb kämpft sie darum, dass sich etwas verändert und dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen sich zutrauen, eine Karriere, zum Beispiel im Gesundheitssektor, zu verfolgen.

Für ihre Arbeit hat Dr. Toyin Aderemi diesen Herbst als erste Nigerianerin den Her Abilities Award von Licht für die Welt, eine internationale Auszeichnung für Frauen mit Behinderungen, erhalten. In der Award-Jury saßen auch die deutsche Rechtswissenschaftlerin und Behindertenaktivistin Theresia Degener und die Poetry Slammerin Ninia LaGrande, die für Aderemi stimmte.

Ein starker Wille und die Unterstützung ihrer Eltern ermöglichten es Aderemi, wie sie selbst sagt, ihren Fähigkeiten zu vertrauen und sie weiterzuentwickeln. So weit, dass sie heute anderen Frauen mit Behinderungen und Frauen und Mädchen generell helfen und als Vorbild dienen kann. Doch nur wenn die Barrieren in den Köpfen der Menschen und im Alltag abgebaut werden, können alle – ob mit oder ohne Behinderung – gleichermaßen an der Gesellschaft teilhaben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marianne Fobel

Kommunikationsadvokatin für Inklusion und Entwicklung

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