Zehn Jahre dauert es

Kompetenz Wie wird man eigentlich ein Experte, fragt eine spannende Studie und bietet Trost
Ausgabe 40/2016

Mit dem Küchenlatein am Ende – wie hilft man sich? Keine Frage, man googelt das Problem (häufigste Variante), oder man begibt sich auf die Suche nach einem Experten, der in der anliegenden Frage weiterhelfen kann. Kürzlich nun publizierte die Büchergilde einen Sammelband zur Thematik des Expertentums, er trägt den sprechenden Titel: Auf dem Markt der Experten. Zwischen Überforderung und Vielfalt. Darin deutet sich schon eine erste Problematik des Expertentums an. Es gibt zu viele, und man weiß nicht, welcher Experte wirklich gut ist. Die Herausgeber, Studierende der Freien Universität zu Berlin, begaben sich daher ins Gespräch mit Wissenschaftlern und Künstlern, um den schillernden Begriff dingfest zu machen.

Die Expertiseforschung begann laut Harald A. Mieg – er ist Professor für Forschung und Innovation in Potsdam – in den 20er Jahren mit Analysen zum Schachspiel. Diese Untersuchungen zeigten, dass Experten kein besseres Gedächtnis als „normale Menschen“ haben. Aufgrund ihrer angesammelten Erfahrung und ihres Spezialwissens erfassen sie jedoch Probleme ihres Fachs in ihren spezifischen Konstellationen schneller und besser.

Sie sehen die relevanten Sinnzusammenhänge anstelle von Einzelpositionen. Schachmeister merkten sich die Partien in Schachzügen, statt sich einzelne Figuren einzuprägen. Später definierten William G. Chase und Herbert A. Simon diese Sinnkomplexe als sogenannte chunks.

Experten zeichnen sich durch Bereichsspezifität aus. Im Gegensatz zum Intellektuellen, der sich in der Öffentlichkeit über alles und jeden äußern kann, weil er komplexe Zusammenhänge erkennen und Missstände anprangern will, bescheidet sich der Experte (idealerweise!) auf sein Spezialgebiet. Das führt zu einer Schieflage im Prestige: Die bewundernswerte Fähigkeit zu geistigen Transferleistungen lässt den Intellektuellen attraktiver erscheinen als den Experten, der eben einfach beschränkter daherkommt. Neben dem Intellektuellen wirkt der Experte kleinkariert, obwohl er seine Berechtigung hat.

Die relative Expertise

Wie wird man Experte? Nach Mieg gilt die Zehnjahresregel. Zehnjährige intensive Beschäftigung mit einem Thema und gesammelte Erfahrung auf dem spezifischen Gebiet sowie die stetige Hinzugewinnung weiteren Wissens ebnet den Weg zum Expertentum. Jedoch ist dies kein Ritterschlag für Langzeitstudierende, hinzu kommt das Kriterium, dass man zu den besten zehn Prozent des Felds gehören muss.

Und warum eigentlich zehn Jahre? Wenn man bedenkt, dass ein durchschnittliches Masterstudium fünf Jahre dauert, fühlt man sich an dieser Stelle deprimiert. War das Studium umsonst? Als Trost hilft das Konzept der „relativen Expertise“. Nach dem Motto „Unter den Blinden ist der Einäugige König“ kann man im Kreise Nichtwissender immer noch den Status eines Experten einnehmen – sofern gewünscht und vom Umfeld akzeptiert. Expertentum erfolgt also auch durch die Zuschreibung von außen und ist gewissermaßen flüchtig. Kaum bewegt sich der relative Experte in ein anderes Umfeld, kann er auf den Status des Fortgeschrittenen (laut Buch nach drei Jahren erreicht, somit dem Bachelor entsprechend) herabsinken. Das Ringen um die Rolle als Experte ist also auch ein ständiger Kampf um Selbstbehauptung.

Gerade in Zeiten großer Unsicherheit besteht, kaum verwunderlich, eine große Nachfrage nach Experten. Im Gegensatz zur Antwortsuche im Internet übernimmt er für seine Aussagen die Verantwortung. Das heißt, das von ihm verkündete Wissen ist an seine Person, oftmals sogar an sein Gesicht, gekoppelt. Daher werden Experten niemals von der anonymen Wissensmasse des Internets ersetzt werden.

Übrigens: Vor einigen Jahren besuchte ich ein Seminar zu Besserwissern, Intellektuellen und Experten. Einschneidend war, dass keiner der Studierenden damals wusste, wer aktuell Kultursenator war. Aber damals standen wir halt noch am Beginn unseres Expertendaseins.

Info

Auf dem Markt der Experten. Zwischen Überforderung und Vielfalt
Ruben Pfizenmaier u.a. (Hg.)
Edition Büchergilde 2016, 200 S., 18,95 €de

Marie Mohrmann bloggt auf freitag.de

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