Wilhelm Raabe schrieb über bröckelnde Idyllen in Zeiten radikaler Transformation
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Wilhelm Raabe, geboren 1831, gestorben 1910, gehört zu den kanonischen Autoren des bürgerlichen und poetischen Realismus. Raabe war ein aufmerksamer Beobachter seiner Zeit und, davon erzählen seine Biografen, ein Vielleser sondergleichen. In seinem umfangreichen Werk verhandelt er die populären Themen und Diskurse, seien es Kolonialismus, Darwinismus oder die Auswirkungen der Industrialisierung auf den Einzelnen und die (bürgerliche) Gesellschaft. Seine Literatur kommt unspektakulär daher, eingängig oder, mit einem Lieblingswort Raabes gesagt, „behaglich“. Sie hat es aber, wie jede gute Literatur, in sich.
In der letzten Zeit ist, vor allem durch die ökokritische Forschung, Raabes Pfisters Mühle. Ein Sommerferienheft (1884) wieder zu
(1884) wieder zu einiger Berühmtheit gelangt. Im Mittelpunkt von Pfisters Mühle steht die Verschmutzung eines Flusses durch die Zuckerfabrik Krickerode, die einem Müller das ökonomische Überleben schwer bis unmöglich macht. Und zum ersten Mal taucht – noch vor der Erfindung des Wortes – das juristische und ethische Problem auf, inwieweit Schuldfragen auch in Sachen Umweltverschmutzung gelten können. Zu Recht gilt Pfisters Mühle als erster Umwelt-Roman in der deutschen Literatur. Verdichtet werden darin viele Motive Raabes: die Unmöglichkeit von Idyllen in einer von radikaler Transformation gekennzeichneten Zeit, die Grenzenlosigkeit kapitalistischen Gewinnstrebens und die Ambivalenz von Fortschritt im Zeitalter der Industrialisierung. Als Leser*in kann man den Fluss förmlich riechen, so gut gelingt Raabe die Schilderung einer optisch und olfaktorisch verwüsteten Landschaft.Raabes Schreiben gilt weniger der – um einen Zentralterminus der realistischen Literaturauffassung zu zitieren – „Verklärung von Wirklichkeit“, sondern ihrer Aufklärung. Denn Verklärung bedeutet, all jene Aspekte der Wirklichkeit auszublenden, die dem Ideal des Heiteren, Schönen, Bequemen widersprechen. Raabes Erzählen geht aber dahin, wo es riecht und stinkt. Anstatt also die Wirklichkeit zu verklären, klärt sein Schreiben die Verhältnisse auf. Er klärt damit auch die Leser*innen über diese Verhältnisse auf, indem er die negativen Aspekte sichtbar werden lässt.Einige seiner Romane und Erzählungen – wie Die Chronik der Sperlingsgasse, Stopfkuchen oder Die Akten des Vogelsangs – sind durch die verdienstvollen Leseausgaben des Reclam Verlags populär geworden. Einige kennen daher Raabe vielleicht schon aus der Schule. Die einschlägige Gesamtausgabe der Werke – die nach dem Sterbeort Raabes benannte Braunschweiger Ausgabe – umfasst hochpreisige 20 Leinenbände plus fünf Ergänzungsbände. Der erste Band der Braunschweiger Ausgabe erschien 1965, der letzte 2005. Umso dankbarer müssen Raabe-Fans nun dem Göttinger Wallstein Verlag sein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Staub von der Braunschweiger Ausgabe zu wischen und das lesende Publikum mit gut edierten und kommentierten Raabe-Texten zu verwöhnen.Es handelt sich um eine lose Reihe, die vor allem eher unbekannte Texte, wie beispielsweise die Erzählungen Fabian und Sebastian oder Der Lar, in literaturgeschichtlich kommentierten und kulturgeschichtlich informierten Leseausgaben präsentiert. Dem Göttinger Verlag ist es gelungen, renommierte Raabe-Forscher wie Rolf Parr, Moritz Baßler und Andreas Blödorn zu gewinnen, die die Texte mit ihren forschungsgesättigten Erläuterungen versehen, in ihre historischen Kontexte einordnen und somit für eine breitere Leserschaft verständlich machen. Es sind Leseausgaben im besten Sinne – also Ausgaben für Leser*innen, die Raabe kennenlernen wollen, aber auch für solche, die Inspiration für eine vertiefte Auseinandersetzung mit Raabes Werk suchen.Was alle Harmonie auflöstDen Auftakt macht die Erzählung Fabian und Sebastian aus dem Jahre 1882. Verantwortlich als Kommentator und Nachwortverfasser ist Moritz Baßler, die von Andreas Blödorn besorgte Ausgabe von Der Lar soll im Frühjahr folgen. Der Schauplatz von Fabian und Sebastian ist durchaus populär: eine Schokoladenfabrik, die symbolhaft für den globalisierten Charakter des Kapitalismus steht: ohne Kolonien keine Schokolade. Die erzählte Zeit umfasst ein knappes Jahr in den 1870ern. Die titelgebenden Figuren bilden ein sehr ungleiches Brüderpaar. Während Sebastian erfolgreich an vorderster Front das Unternehmen leitet, ist es sein Bruder Fabian, der, wie es im Text heißt, „Attrappenonkel“, der die Gießformen für die Schokoladenfiguren herstellt.In typischer Raabe-Manier wird diese scheinbare Harmonie durch eine Heimkehrfigur gestört. Im Fall von Fabian und Sebastian handelt es sich dabei um die Tochter des in den niederländischen Kolonien verstorbenen dritten Bruders Lorenz, Konstanze. Die holländisch-kreolische Mutter des Mädchens war bald nach Konstanzes Geburt gestorben und auf der Insel Sumatra begraben worden. Während Fabian und der Sonderling Knövenagel sich liebevoll um die Tochter des verstorbenen Bruders kümmern, lehnt Sebastian Konstanze ab. Der Leser*in enthüllen sich im Laufe der Geschichte langsam die Gründe für sein ablehnendes Verhalten. Sebastian, so lässt Raabe den Leser wissen, hatte seinem Bruder Lorenz die Frau ausgespannt. Aufgrund dieser Kränkung verließ Lorenz die Heimat gen Indonesien, während Sebastian die schwangere Marianne sitzen ließ. Marianne beging einen Kindsmord und ist zum Zeitpunkt der Rückkehr Konstanzes aus den Kolonien bereits seit 25 Jahren im Gefängnis.Raabes Thema in vielen Texten ist die Wiederkehr der verdrängten Vergangenheit, die alle Harmonie auflöst. Man kann der Vergangenheit nicht entkommen, auch wenn man es sich in der Gegenwart behaglich gemacht hat.Für Raabe-Einsteiger*innen eignet sich dieser Roman auf besondere Art und Weise. Raabe-Erstleser*innen können hier wesentliche Motive und Themen des Raabe’schen Schreibens entdecken – die nicht vergehende Vergangenheit, die alle Gegenwartsfixierung als Illusion entlarvt, die Wiederkehr des Anderen in Gestalt der exotisierten Konstanze, die aus Indonesien heimkehrt und jene Werte verkörpert oder mitbringt, die der bürgerlichen Gesellschaft abhandengekommen sind: Mitmenschlichkeit und Empathie. Im Nachwort, das offensichtlich eine breite Leser*innenschaft adressiert, ordnet Moritz Baßler den Text literaturhistorisch ein und gibt einige Hinweise auf die zeitgenössische Rezeption. Eingängig vermag der Münsteraner Germanist den Text zu aktualisieren, ohne vorschnellen Gegenwartskonjunkturen zu erliegen: Das gilt für die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus und die Irritation bürgerlicher Selbstbilder.Raabes Schreiben macht deutlich, dass eine Literatur, die an der Zeit sein will, adäquate Formen liefern muss. Solche finden sich in der deutschen Gegenwartsliteratur nur selten. Und das trotz all der Autosoziobiografen, also Texten, die Lebensgeschichte und soziologische Reflexion kombinieren und die seit dem Erfolg der Nobelpreisträgerin Annie Ernaux oder von Didier Eribon geschrieben wurden. Häufig sind diese Bücher inhaltlich zwar interessant, jedoch formal langweilig, einfach nur hyperrealistisch. Öfter stört ein sentimentaler Bildungsbegriff, wenn zum Beispiel in dem buchpreisnominierten Roman Streulicht (Suhrkamp 2020) von Deniz Ohde das Abitur auf Umwegen wie ein Triumph daherkommt. Seltener überzeugen die vielen Versuche, von Migration und Diskriminierung, von Misogynie oder Klasse zu erzählen. Behzad Karim Khanis viel beachtetes Debüt Hund, Wolf, Schakal (Hanser 2022) kann hier als Ausnahme gelten, es gelingt eine Art realistische „Poetik des Verbrechens“, die die Härte des Erzählten mit der mitfühlenden Zärtlichkeit der Form verbindet. Es fehlt aber flächendeckend der „Raabe’sche Realismus“.Ansätze davon finden sich im Werk Christian Krachts, der nicht zufällig 2012 den Wilhelm Raabe-Literaturpreis verliehen bekam, und im Werk von Heinz Strunk, dessen Der goldene Handschuh den Raabe-Preis 2016 erhielt. Beide Autoren leisten unter Umständen das, was Wilhelm Raabes Poetik für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts geleistet hat, nämlich Selbstbilder der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaft auf eingängige und humorvolle, aber auch schonungslose Art und Weise zu entlarven.Placeholder infobox-1
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