Bloß kein Kitsch!

Literatur Arno Widmann erzählt seine Corona-Szenen bewusst nüchtern, Spott inklusive
Ausgabe 16/2020
Dann lieber gar keine Kultur: Eine Rentnerin findet in Washington D.C. wenig gefallen an einem sozial distanzierten Konzert
Dann lieber gar keine Kultur: Eine Rentnerin findet in Washington D.C. wenig gefallen an einem sozial distanzierten Konzert

Foto: Andrew Caballero-Reynolds/AFP/Getty Images

Der Buchmarkt scheint sich zumindest stellenweise erstaunlich schnell auf „die Krise“, wie sie überall unheilvoll dahergeraunt wird, einzustellen. „Corona-Umbruch“ heißt das geöffnete Dokument auf meinem Computerbildschirm. Gemeint ist nicht der Bruch, den Corona für Welt und Wirklichkeit bedeutet, gemeint ist jener Zwischenschritt bei der Buchherstellung, in der ein Manuskript auf die späteren Buchseiten heruntergebrochen wird. Und was ich da lese, sind Arno Widmanns Szenen aus der frühen Corona-Periode im Umbruch. Bereits dieser Titel eröffnet Raum für Fortsetzungen und bestätigt damit den allenthalben zu vernehmenden Satz: Die Krise wird uns noch lange beschäftigen! Auch Widmanns Protagonisten beschäftigt die Krise. Und führen uns die möglichen Reaktionen auf eine Krise typenhaft vor.

Da gibt es die angstgestörte Paranoide, die Best Ager, die nun „Risikogruppenangehörige“ heißen, Polyamoröse, die plötzlich vor der furchtbaren Entscheidung stehen, mit welchem Familienteil oder Lover sie sich lieber in die Isolation begeben wollen, und natürlich den Kritischen, der sich an der Grenze zur Verschwörungstheorie bewegt, jedenfalls für seine Umwelt. Nicht zu vergessen: der frühzeitig Corona-Infizierte, der hoffen und bangen muss.

Quarantäne mit Vati

Der Journalist Widmann denkt sich diese Geschichten, heißt es, auf dem Sofa liegend aus. Seine letzte trägt die Ziffer 100. Wir verstehen, eine Referenz an das im Text so häufig zitierte Decamerone. Corona ist die Pest, jedenfalls für unsere analogieaffinen Affengehirne. Widmanns Charaktere durchleben, was wir alle in den letzten Wochen an uns beobachten konnten: das Gleiten von gelassener Ruhe zu Ohnmacht, womöglich über den Zwischenschritt Panik. Erzählt ist das in betont nüchterner Prosa. Gerade das Genre des Corona-Tagebuchs steht ja unter erhöhtem Kitsch-Verdacht. Magnus Klaue schrieb gerade für die Jungle World eine wunderbar bissige Glosse darüber, wie Redakteure in größter Not zu Höchstform auflaufen: Solange es genügend Handtücher für die im Newsroom isolierten Autoren gibt, diffundieren ihre Corona-Gedanken im Newstickertakt in die Welt hinaus. Was braucht man in Zeiten wie diesen? Arbeit und Struktur!

Erbauung kann auch nicht schaden. Die liefert Christoph: „Wieso sollte Corona schaffen, was HIV nicht gelang? Weil sich die Zeiten geändert haben, lautet die einfache Antwort.“ Zeiten ändern dich, das wusste schon Bushido. Man weiß nicht so recht, ob man das jetzt ironisch fassen soll, ob Widmann sich über uns und seine Charaktere lustig macht, man hofft es. Auftritt Inge, die in Rom sinniert: „Vor Jahrzehnten war viel die Rede gewesen von einer Bombe, die alle Menschen umbringen würde, ohne auch nur einer einzigen Mauer ein Leids zu tun. Italien sieht aus, als sei hier dieses Massenvernichtungsmittel erstmals zum Einsatz gekommen.“ Wie aufmunternd! Der Essayist und Literaturkritiker László F. Földényi beschwor jüngst menschenleere Architekturveduten als Orte des lebendigen Todes. Inge ist ihm dicht auf den Fersen.

Dass wir aber angesichts von leeren Plätzen an Massenvernichtungswaffen denken, das sagt viel aus über unseren Wirklichkeitssinn. Oder unsere Fertigkeiten im Umgang mit Krisen. Widmanns Text wiederum taugt stellenweise nachgerade als Handreichung zu deren Bewältigung: „Thomas war froh, dass Silvia auch auf Distanz gehen wollte: ‚Ein altes Ehepaar ist eines, das weiß, wann es sich besser aus dem Wege geht.‘“ Noch mal Inge, in die ich mich wirklich verliebt habe: „Das Schlimmste am Coronavirus ist, dass wir zurückgeworfen werden auf das Leben, vor dem schon unsere Eltern geflohen waren: die Kleinfamilie, den Kult des Zuhauses.“ Unsere lächerlichen, in bürgerlichen Vernunftgehäusen eingerichteten Gehirne können sich ja tatsächlich nichts Schlimmeres vorstellen als Quarantäne mit Vati. Hell is other people, schon klar, Inge. Aber du gehörst ja dazu.

Info

Szenen aus der frühen Corona-Periode Arno Widmann edition fotoTAPETA 2020, 70 S., 7,50 €

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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