Ein Mann wird an ein Holzkreuz gebunden. Er trägt einen Kranz aus Stacheldraht um seinen Kopf. Blut quillt aus seiner Stirn hervor, während das Kreuz aufgerichtet wird. Es ist das Jahr 1996, die Kreuzigung des Wrestlers Sandman durch seinen Gegner Raven bildet den Höhepunkt einer langen, blutigen Fehde. Es ist vielleicht die umstrittenste Szene in der Geschichte der ECW (Extreme Championship Wrestling), die auch deshalb unter Wrestlingfans noch lange nach ihrem Verschwinden vom Markt einen legendären Status innehat.
Wrestling is fake!
Der Satz, mit dem Wrestling-Fans am häufigsten konfrontiert werden, lautet: „Weißt du nicht, dass das nicht echt ist?“
Die Frage offenbart ein doppeltes Missverständnis. Denn erstens weiß jeder Fan, dass die Geschichten rund um das Geschehen im Ring erdacht sind. Andererseits – und das ist eine spannende Aporie des Wrestlings – sind die Handlungen im Ring sehr wohl real. Abgesehen von Faustschlägen ins Gesicht und Tritten an den Kopf sind die Aktionen "echt". Ein Sturz aus drei Metern Höhe lässt sich nicht vortäuschen.
"Wrestling is fake!"
"I prefer to think of it as beautifully choreographed fight dancing, but that’s me." (Nathan Birch)
Ein wirklich gutes Match zeichnet sich durch eine Mischung aus Technik und Härte, Choreografie und Spontaneität aus. Dann stellt sich beim Kampf ein Rhythmus ein und die Körper erzählen eine Geschichte, ebenso, wie sie es beim Tango oder Pasodoble tun. Die Gewalt verknüpft sich mit einer Ästhetik, die gleichermaßen fasziniert wie verstört.
Zuzusehen, wie ein Mensch mit Gegenständen geschlagen wird bis er blutet, würde uns normalerweise verstören. Wrestlingfans aber jubeln. Denn der Ring, den die Akteure betreten, legitimiert den Akt der Gewalt. Alles, was hier geschieht, darf geschehen, denn es entspricht seinen Gesetzen.
Blutige Katharsis
Das fließende Blut, durch das Wrestling mit dem „Echtheitsbeweis“ versehen wird, steigert das Kayfabe (die Übereinkunft, die Illusion des Ringgeschehens aufrecht zu erhalten) zur perfekten Show.
Das Blut macht das Match zu einem martialischen Geschehen und hebt es damit in die Liga der großen Gladiatorenkämpfe.
Es ist das komplexe Zusammenspiel von phóbos und éleos, Jammer und Schrecken, das fasziniert. Wrestler durchleben stellvertretend für das Publikum eine Reihe von Affekten - Angst, Wut, Rachlust, Schmerz. Die gezeigten Aktionen erschüttern jeden, der zur Empathie fähig ist.
Auf psychologischer Ebene lässt sich die Faszination, die von Wrestling ausgeht, am besten mit dem Begriff der Angstlust erklären. Jede Aktion – schon ein ungünstiger Aufprall auf den Nacken – könnte lebensgefährliche Verletzungen verursachen. Man fiebert mit, leidet mit, und am Ende ist alles gut – oder eben nicht.
Der Betrachter als Komplize
Ein Youtube-Video zeigt den Moment, in dem Owen Hart (der später selbst im Ring verstarb) den Nacken von Stone Cold Steve Austin bricht. Neugierde und Horror mischen sich bei der Betrachtung. Fast 500,000 Menschen haben allein dieses Video angeschaut.
Ehrlich gesagt beschleicht mich nicht selten ein schlechtes Gewissen, wenn ich Wrestling schaue. Darf man Gewaltszenen betrachten, von denen man weiß, dass sie die Akteure schwer verletzen könnten – auch wenn diese in alle Aktionen einwilligen?
„Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde.“
(Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten)
Vielleicht ist mein Mitleid also nur eine Entschuldigung vor mir selbst?
Gewaltkultur
Weil Wrestling basale menschliche Affekte porträtiert, ist es über Kulturkreise hinweg anschlussfähig. Zugleich greift es immer wieder auf die Gewalt-Ikonografie der abendländischen Kultur zurück. Meist merken es die Fans gar nicht.
Die oben geschilderte Kreuzigungsszene provozierte im Anschluss an den Kampf wütende Reaktionen. Einige ECW-Wrestler hatten den Eindruck, man sei mit der „blasphemischen“ Szene einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen. Schließlich taten Raven und Sandman etwas, das Wrestler normalerweise streng vermeiden: Sie brachen ihre Rolle und traten nach dem Match vor die Fans, um sich zu entschuldigen.
Raven alias Scott Levy findet diese Entschuldigung bis heute absurd. Levy rechtfertigte die Kreuzigungsszene als Rückgriff auf christliche Ikonografie – wie könne die Blasphemie sein?
Der eigentliche Witz im Aufruhr um die Kreuzigungsszene besteht darin, dass der Anfang unserer abendländischen Kultur in einem Akt der ästhetisierten Gewalt besteht. Das Bild eines gekreuzigten, leidenden Mannes avancierte buchstäblich zu der Ikone der christlichen Religion. Die Allgegenwart des Bildes erzeugt in uns zugleich eine Gleichgültigkeit im Angesicht des Leids.
Man muss nicht empathielos sein, um angesichts von Gewaltbildern abzustumpfen. Besonders dann, wenn sie im Rahmen eines bestimmten Settings gezeigt werden.
Feel my pain
Payback 2014. Team Evolution tritt im Ring gegen die jungen Stars des Shield an. Im Verlauf des Matches wird ein Shield-Mitglied, Roman Reigns, im Ring isoliert. Team Evolution zerrt ihm die Kleider vom Oberkörper; Reigns wird auf einer herbeigebrachten Ringtreppe fixiert.
Einige harte Schläge mit Kendo-Stöcken sausen auf Reigns nieder, der vor Schmerzen aufschreit und stöhnt. Dann trifft ein weiterer Schlag seinen Körper. Diesmal ist es die harte Plastikspitze des Kendostocks, die (vermutlich versehentlich) mit unfassbarer Wucht auf seine Rippen prallt.
Reigns krümmt sich, seine Augen werden glasig. Er sackt vor der Treppe zusammen, wird mit weiteren Stuhlschlägen auf den Rücken traktiert. Dann zoomt die Kamera auf seine Rippen: Da sind sie, die Male, die die ultimative Echtheit seines Schmerzes bezeugen.
Der Zuschauer ist ganz nah dran und wird durch die Kamera in die Position des ungläubigen Thomas gerückt, der prüfend seinen Finger in die Wunde legen darf. Tatsächlich, die Hämatome sind echt.
Verstörender noch, als das, was im Ring geschieht, sind die Reaktionen der Zuschauer. Viele Fans grinsen genüsslich oder kauen desinteressiert Popcorn. Nur die Kinder (!) im Publikum scheinen einigermaßen geschockt und schließen die Augen.
Weite Teile des Publikums erleben eine Form der kollektiven Dissoziation. Die eigentlich „natürliche“, empathische Reaktion bleibt aus.
Der Wrestler Raven hat sich selbst einmal als "Märtyrer einer dysfunktionalen Gesellschaft" bezeichnet. Ein Mensch, der stellvertretend für andere Leid und Schmerz annimmt ("I feel your pain"). Ganz im Sinne einer Katharsis. Aber was, wenn der Zuschauer nichts mehr fühlt?
Kommentare 18
Donnerwetter, Sie haben ja echt richtig Lebensthemen drauf!
Nu ja, warum nicht? da die Zeit das Thema in letzter Zeit recht häufig aufgegriffen hat (http://www.zeit.de/2015/20/wrestling-deutschland-stefan-kastenmueller; http://www.zeit.de/sport/2011-03/wrestling-catchen-sport-show-hitman) und ich an einem kulturwissenschaftlichen Essay über Wrestling arbeite, warum nicht mal nach der Rolle von Gewalt in unserer Bildtradition fragen? Zum Glück bin ich nicht monothematisch ausgerichet ;)
Dass "der Anfang unserer abendländischen Kultur in einem Akt der ästhetisierten Gewalt besteht" und zwar wegen der Darstellung Christi am Kreuze, ist eine These, die es zu prüfen gälte. Zm einen dahingehend, wann der Beginn der abendländischen Kultur anzusetzen sei. Nicht wenige werden da ins antike Griechenland ausgreifen, andere dagegen vielleicht in die Karolingerzeit ... Als Nebeneffekt dürfte damit markiert sein, dass Gewalt oder deren "Ästhetisierung" keinesfalls implizites wie paradoxes Signum des Christentums und auch keinesfalls besonderer Ausweis des sogenannten 'Abendlandes' ist. Desweiteren sind die Darstellungen des Martyriums Christi erst vergleichsweise spät aufgekommen. Gleichwohl hat das Christentum sich spätestens mit den ersten Kreuzzügen ganz selbstverständlich neben und vor die heilige Schrift Schild und Schwert gesetzt; gerade in der Frühen Neuzeit und besonders nach dem Fall Konstantinopels war es nicht unüblich, selbst Gottesdienste mit Bewaffneten zu bewehren. Die Darstellung des gekreuzigten Christus hingegen soll ja hingegen doch 'eigentlich' Demut einpflanzen vor dem, der sich gewaltlos der gewaltvollen Macht entgegenstellte und damit das 'Leid der Welt' an sich auf sich nahm. Dem kann wiederum freilich die Frage entgegengehalten werden, inwieweit in den drastischen und/oder naturalistischen Illustrationen des Martyriums - Gemälde, Plastiken, Schnitzwerke - nicht vielleicht doch auch eine Ästhetisierung von Gewalt erkannt werden kann. Ähnlich müssten dann aber etwa auch die Fotografien von Kriegsreportern befragt werden.
Dass anhand des vielfach behandelten und dargestellten Themas der Gewalt in unserer Kulturgeschichte wie der Religion sowohl der arme Schlucker vergangener Zeiten zum Kreuzritter, Landsknecht, letztlich auch zum marodierenden Gartbruder, wurde als auch heute der Wrestler oder Free-Fighter sich als "Märtyrer einer dysfunktionalen Gesellschaft" ansieht, ist wohl sicher nicht wegzureden wie gleichermaßen bedauerlich und bescheuert.
Dass "der Anfang unserer abendländischen Kultur in einem Akt der ästhetisierten Gewalt besteht" und zwar wegen der Darstellung Christi am Kreuze, ist eine These, die es zu prüfen gälte. Zm einen dahingehend, wann der Beginn der abendländischen Kultur anzusetzen sei. Nicht wenige werden da ins antike Griechenland ausgreifen, andere dagegen vielleicht in die Karolingerzeit
Natürlich muss man die antike Tradition hier mit einbeziehen. Ich habe den Begriff der abendländischen Kultur aber bewusst als Abgrenzung zum „Orient“ benutzt, mit seiner ikonoklastischen Tradition und dem Verbot der Darstellung von Gott. Die Begriffe Orient/Okzident entstammen ja wiederum der römischen Tradition.
Sie haben aber in jedem Fall recht, dass man „abendländische“ Kultur nicht nur auf das Christentum reduzieren kann.
Als Nebeneffekt dürfte damit markiert sein, dass Gewalt oder deren "Ästhetisierung" keinesfalls implizites wie paradoxes Signum des Christentums und auch keinesfalls besonderer Ausweis des sogenannten 'Abendlandes' ist.
Ich würde aber doch sagen, dass die Ästhetisierung des Gewaltaktes im Christentum eine andere Rolle spielt, als in den anderen monotheistischen Religionen oder Religionen allgemein. Wobei es natürlich Elemente wie Selbstgeißelung auch in anderen Religionen gibt.
Es stimmt zu sagen, dass Ästhetisierung von Gewalt nicht nur im Abendland stattfindet/stattgefunden hat, trotzdem hat es im Bild des leidenden Gottes eine andere Dimension.
Desweiteren sind die Darstellungen des Martyriums Christi erst vergleichsweise spät aufgekommen.
Ja, das hängt eben auch mit der ikonoklastischen byzantinischen Tradition zusammen. Natürlich kommt dadurch erst im Mittelalter eine entsprechende Bildtradition auf, bei der der leidende Jesus immer stärker ins Zentrum rückt (bis zum Spätmittelalter, in der die Pietà die Vollendung der „Menschwerdung“ Gottes darstellt – denn hier finden wir eine Mutter-Sohn-Szene, die Leid und Trauer in den Fokus rückt und das Element der Göttlichkeit praktisch vollständig ausklammert)
Und eigentlich wird es hier spannend: Das Bild des leidenden Christus gewinnt gegenüber dem Bild des Salvator Mundi an Bedeutung. Im (Spät)Mittelalter vollzieht sich also eine klare Wendung hin zu einer ästhetisierten Gewalterfahrung. Der Schmerzensmann und die Pietà erzeugen eine ganz andere Form der Verehrung und Frömmigkeit.
Dem kann wiederum freilich die Frage entgegengehalten werden, inwieweit in den drastischen und/oder naturalistischen Illustrationen des Martyriums - Gemälde, Plastiken, Schnitzwerke - nicht vielleicht doch auch eine Ästhetisierung von Gewalt erkannt werden kann.
Genau darauf will ich hinaus. Der Höhepunkt der Frömmigkeit wird erreicht, wenn die Gewaltdarstellung in der christlichen Tradition am drastischsten wirkt. Hierdurch wird die Menschlichkeit und das Leid Jesu erfahrbar, spürbar. Hier werden wir wieder beim Thema Empathie. Wenn wir jetzt an Michelangelos Pietà denken, dann stellt diese den Höhepunkt der ästhetisierten Gewalt in der Renaissance dar, und zeigt noch einmal deutlich ein verändertes menschliches Bewusstsein.
Ähnlich müssten dann aber etwa auch die Fotografien von Kriegsreportern befragt werden.
Da haben Sie recht! Spannenderweise wird im Zusammenhang mit Kriegs- und Krisenfotografie häufig der Vorwurf laut, die Bilder seien zu „schön“, vor allem im Zusammenhang mit dem Bild von Paul Hansen, der 2013 den World Press Award für sein Bild eines palästinensischen Trauerzuges mit Kinderleichen erhielt
Zudem gibt es das Buch „War Porn“ von Christoph Bangert, das den Zusammenhang von Gewalt-Schaulust-Ästhetisierung sehr gut vor Augen führt. Susan Sontag meinte ja einmal: Überall dort, wo der schöne menschliche Körper verletzt werde, erzeuge das eine pornografische Schaulust.
der Wrestler oder Free-Fighter sich als "Märtyrer einer dysfunktionalen Gesellschaft" ansieht, ist wohl sicher nicht wegzureden wie gleichermaßen bedauerlich und bescheuert.
Man traut es einem Wrestler vielleicht nicht zu, aber Scott Levy ist hochintelligent (und gibt damit auch gerne an :). Den Begriff des Märtyrers hat er bewusst benutzt und ich finde ihn zugleich treffend wie auch entlarvend. Der Märtyrer des 21. Jahrhunderts stirbt nicht für andere oder seinen Glauben; und er sucht auch nicht nach einem höheren Zweck für die Gewalt und Gewalterfahrung. Dagegen steht der Zeigeaspekt im Vordergrund: die Darstellung des Leides mit größtmöglicher medialer Reichweite. Insofern finde ich seinen Satz nicht bescheuert, sondern entlarvend für unsere Kultur. Der Begriff „Märtyrer“ sollte zudem das christliche Amerika entlarven, mit seiner Gewaltkultur, die zB gefallene Soldaten patriotisch (und gewissermaßen als Märtyrer) feiert und damit Leid und Tod ästhetisiert und heroisiert.
Wenn ein Wrestler sich als Märtyrer bezeichnet – also als jemand, der für seinen Glauben/seine Überzeugungen leidet, dann ist der Witz an der Sache doch, dass er in Wirklichkeit nur zu einem Zweck leidet: Kommerz. Die Kommerz und Konsum sind der Kern der westlichen Gesellschaft, und deswegen müssen unsere Märtyrer ihr Leid maximal vermarktungsfähig darstellen.
Zum Schluss: Lieben Dank für die Denkanstöße!
Verlinken, ohne das Thema zu vertiefen, ist zwar billig, aber ich mache es trotzdem mal. Aber ich fand Wrestling immer einfach blöde, und das bleibt auch so. Ein bisschen Erinnerung habe ich trotzdem dran, Blut gab es da eher wenig zu sehen (wenn auch schon mehr als beim Boxen). Drum musste ich an den kürzlichen Beitrag von Goedzak über Körperflüssigkeiten in der Abbildwelt denken.
Den Film 300 fand ich faszinierend, wenn auch nicht ohne schlechtes Gewissen dabei. Da gibt es Blut genug, wenn auch farblich verfälscht. So gesehen - die Farben beim Wrestling fand ich immer zu schlecht und zu echt. Es fehlt mir bestimmt die ästhetische Verfremdung.
Ein bisschen Erinnerung habe ich trotzdem dran, Blut gab es da eher wenig zu sehen (wenn auch schon mehr als beim Boxen).
Das kommt sehr darauf an, welche Phase des Wrestlings man betrachtet. In meiner Kindheit – den frühen 90ern – war Wrestling ja ziemlich albern. In den späten 90ern dann (auch durch den Einfluss der ECW) wurde Wrestling extremer, u.a. durch den Einsatz von Gegenständen, die an sich die Verletzungsgefahr vergrößern. Eine Zeit lang wurden in den frühen 2000ern gezielt Cuts gesetzt, die dann beim ersten Schlag aufbrachen und heftig bluteten. In den letzten Jahren – auch in dem Versuch, „familienfreundlicher“ zu werden – gibt es weniger Blut zu sehen bzw. entstehende Verletzungen werden an Ort und Stelle getackert.
So gesehen - die Farben beim Wrestling fand ich immer zu schlecht und zu echt. Es fehlt mir bestimmt die ästhetische Verfremdung.
Das finde ich jetzt interessant. Mir geht es nämlich mit 300 so, dass mir die verfremdeten Farben zu surreal sind und (bewusst) an Comics/Videospiele erinnern. Diese Optik hat mich bei 300 immer gestört. Aber bei diesem ist die Ästhetisierung des Blutes (vor allem die Form, in der es spritzt) schon sagenhaft :)
Und danke für den Link!
Merci :)
Die Angst und Ungewissheit, die Kämpfe mit sich bringen, erzeugen bei den Kämpfenden wesentlich mehr Stress als durchchoreographierte Stunt Shows.
Und ich würde behaupten, sie bieten das gleiche auch dem Zuschauer. Bei Ronda Rousey-Kämpfen warte ich immer nur auf den Moment, in dem der Arm der Gegnerin bricht und sich dieses wohlig-schreckliche Gruseln einstellt. In eine Stuntshow kann man Kind und Kegel eher mitnehmen und sie bieten zudem die Möglichkeit, körperlich unterlegene Gegner (beispielsweise Daniel Bryan) über andere triumphieren zu lassen.
Tatsächlich interessant finde ich die Frage, warum Show Wrestling v.a. in den USA lange Zeit beliebter war als Shoot Wrestling. Der MMA-Hype der letzten Jahre hat dies bekanntlich umgekehrt. Einige Beobachter der Szene vermuten gar, dass MMA mittelfristig das Profiboxen, in kommerzieller Hinsicht der König im Kampfsport, vom Thron stoßen wird.
Ein Aspekt sind sicher Zielgruppen. Ich fand es ganz interessant zu sehen, dass die größte Zielgruppe der WWE derzeit die Gruppe der 35-65 jährigen ist (früher war es die Gruppe 15-30). Bei MMA Fights habe ich den Eindruck, dass die Zielgruppe jünger und eher männlich ist, während Wrestling (zumindest die WWE) versucht, ein „Familienprogramm“ zu liefern.
Ich beobachte bei vielen Wrestling-Fans zudem einen Versuch, sich gegen andere Fans (die eher die Soap Opera Elemente mögen) abzugrenzen, indem man betont, man interessiere sich für den Kampfaspekt. Das kann man dann zusätzlich unterstreichen, indem man MMA-Fights schaut. Wrestling flirtet ja derzeit heftig mit MMA, indem man beispielsweise Ronda Rousey bei Wrestle Mania 31 auftreten ließ; und Brock Lesnar wechselt ja ohnehin zwischen beiden Welten hin und her. Auch CM Punk versucht sich als MMA-Fighter.
Ich glaube auch, dass MMA Fights dem Boxen den Rang ablaufen könnten, auch, weil sie mehr Nervenkitzel (siehe Verletzungen) bieten.
Ich persönlich schaue zwar auch MMA, bevorzuge aber Wrestling. Das liegt aber auch daran, dass ich ein großer Fan von High Flyern wie Sami Zayn, Neville usw bin.
Spannend – und darauf bin ich erst jetzt durch ihren Post gekommen (wie blöd von mir) – ist ja schon der Begriff Kampfkunst. Hier vollzieht sich offensichtlich die Verbindung von Kampf-Ästhetik-Schönheit-Gewalt.
Und diese Verbindung tritt bei den „klassischen“ asiatischen Kampfsportarten besonders in den Vordergrund. Das ist ja letztlich der Kern der beliebten Kampfsportfilme der 90er (siehe Karate Kid und co). Wobei dieser Aspekt der Schönheit (zum Beispiel der fließenden Bewegungen)bei Bareknucklefights/Sambo etc, wieder in den Hintergrund tritt. Weil sie roher sind. Hier gibt es – würde ich sagen – nicht so viel Raum für Ästhetisierung und die Nähe zum „Straßenkampf“ ist größer.
Apropos Ästhetisierung: Den Körper des Kämpfers darf man im Zusammenhang mit der Ästhetisierung auch nicht außen vor lassen. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum Pro Wrestling in den USA lange Zeit so beliebt war (und ja auch immer noch ist): Hier wird dem schönen (gestählten) Körper Gewalt angetan, und er wird auch als schöner Körper inszeniert (siehe auch Kostüme, Make-up, Selbstbräuner bis hin zur Beleuchtung).
Auf jeden Fall danke für die Denkanstöße!
So, geschafft, nun habe ich mal wieder 1 Minute aktuelles Wrestling bei youtube geguckt. Die Farben sind besser geworden. Meine Vergleichserinnerung stammt aus der ersten Hälfte der 90er. Sieht aber immer noch albern aus, da die Heroen Oberschenkeltumoren haben, dass ich denke - denen kann ja jeder normale Mensch davonlaufen, weil die Typen nicht normal laufen können. Und wenn man sie dann kaputt gehetzt hat, wird der Speer angesetzt. Traditionelle Jagdmethoden. Anthropologen führen die gute Konkurrenzfähigkeit der frühzeitlichen Menschenhorde auch darauf zurück, dass Mensch bei 35 Grad Hitze länger ausdauernd laufen kann, weil die Kühlung ganz gut funktioniert (genügend Wasser vorausgesetzt). Man kann (als Gruppe) also ein Zebra zum Kreislaufkollaps hetzen, obwohl das Zebra natürlich viel schneller laufen kann. Der durch Muskelmasse gelähmte Wrestler ist dann die dominante Lebensform im U-Bahn-Wagon, wo die Langstreckenausdauer nichts nutzt.
So, geschafft, nun habe ich mal wieder 1 Minute aktuelles Wrestling bei youtube geguckt. Die Farben sind besser geworden. Meine Vergleichserinnerung stammt aus der ersten Hälfte der 90er.
Ha, jetzt bin ich natürlich extrem neugierig, was Sie geschaut haben. Generell muss man sagen, dass der Trend zum extrem muskelbepackten Wrestler eher rückläufig ist. Die Generation junger Wrestler ist eher schmalbrüstig (naja, im Vergleich zu anderen Wrestlern), siehe Seth Rollins, Sami Zayn, Dean Ambrose, Kofi Kingston, Finn Bálor.
Der Höhepunkt der extremen Muskelberge war so vor circa zehn Jahren erreicht.
Sieht aber immer noch albern aus, da die Heroen Oberschenkeltumoren haben, dass ich denke - denen kann ja jeder normale Mensch davonlaufen, weil die Typen nicht normal laufen können. […]Der durch Muskelmasse gelähmte Wrestler ist dann die dominante Lebensform im U-Bahn-Wagon, wo die Langstreckenausdauer nichts nutzt.
Selten einen so schönen Post gelesen! Hervorragend :D
Sie haben aber natürlich vollkommen recht! Es hat schon einen Grund, warum marathon-Läufer nicht wie Bodybuilder aussehen. Ein Wrestler mit extremen Muskeln erreicht viel schneller den Punkt, an dem die Muskulatur nicht mehr mit dem Sauerstoff aus der Atemluft „beatmet“ werden kann und übersäuert.
Nochmal zur Optik, das Thema fasziniert mich nämlich sehr, eben weil es ja das Feld der Ästhetik berührt: Gerade in 300 hatte ich das Gefühl, Wrestlerkörper zu sehen, und es gibt ja auch einige Szenen, in denen Angriffe durch Überwürfe ausgekontert werden, das hat dann schon etwas von Gladiatorenkampf.
Tatsächlich spielen die Farben bei der Rezeption von „Kampfkunst“ eine große Rolle – ich mochte zum Beispiel nie die WCW oder TNA Wrestling. Mir ist neulich ein Fan-Video unter die Augen gekommen, in dem Farben und Bildschärfe auffällig manipuliert wurden, und das ich – aus welchem Grund auch immer – ausgesprochen ästhetisch finde.
<iframe width="560" height="315" src="https://www.youtube.com/embed/kH3X_EVFjnI" frameborder="0" allowfullscreen></iframe>
ahaha, sorry: https://www.youtube.com/watch?v=kH3X_EVFjnI
Es war nicht genau dies hier, aber so war's. "WWE Wrestling" als Google Videosuche. In Ihrem Link haben die Muskelberge sich normalisiert, wenn es auch immer noch erkennbar Berge sind. Das kommt dem 300er-Körper wohl nahe, ja.
Keine pinken und gelben Hosen mehr!
pinke und gelbe Hosen gibt's nur noch als Hommage an die good old times :D bei Wrestlern wie The Rock sieht man ja auch, dass die Körper gut dazu taugen, in das Action-Kino-Genre zu wechseln.
ach ja, was ich ja nie verstanden habe - vielleicht kann mir das ein Mann erklären: Wie kommt es bei so viel Männlichkeitskult eigentlich dazu, dass Wrestler pinkfarbene Hosen tragen? oder wie Ric Flair mit einer Federboa auftreten? Fragen über Fragen...
Tatsächlich spielen die Farben bei der Rezeption von „Kampfkunst“ eine große Rolle - so ist es. Vergleiche:
https://www.youtube.com/embed/uh-gwDRjKXA
der Film steht dann aber auf der Wrestling gegenüberliegenden Seite der Kampfkunstskala; wobei, der Kampf ist bei beiden inszeniert. Aber der Zugang zur Kunst des Wrestlings ist mir irgendwie versperrt. Da guck ich eben Yimou und so, geht auch (=
Pinkfarbene Hosen kann ich ich nicht erklären.
Den Vergleich mit Kampfsportfilmen finde ich gut. Der Familiencharakter dieses Wrestlings ist mgl. ein Überbleibsel von seinen Ursprüngen in der Jahrmarktskultur. Ästhetisch weist es Nähe zu Superhelden-Comics auf.
Ja, zum einen sind die Charaktere comichaft. Gerade in den letzten Jahren haben sie aber auch eine große Ähnlichkeit zu bestimmten Seriencharakteren entwickelt. Sie sind vor allem vielschichtiger geworden und entsprechen nicht mehr dem einfachen Gut-Böse-Schema. Was ich übrigens sehr spannend finde, ist dass seit einigen Jahren die „Bösen“ oder abgründigen Charaktere bejubelt werden, während die klassischen good guys ausgebuht werden.
MMA profitiert dagegen von der Ästhetik des "Realen", die auch Gangsta- u. Hardcore Rap ab den 1990ern in die Charts brachte. Dieses Spiel mit der Ästhetik des "Realen" führte v.a. in Deutschland dazu, dass MMA anfangs mit illegalen, von der Organisierten Kriminalität veranstalteten Kämpfen assoziiert wurde und auf Ablehnung traf. "Zielgruppe" waren zunächst zornige, junge Männer. Doch so wie inzwischen in Kinderzimmern von jungen Mädchen ein Plakat von NWA zu finden ist, wird MMAnun in Familienkomödien aus Hollywood thematisiert.
Ja, es gab doch diesen Film „Das Schwergewicht“ oder so… stimmt, es ist nicht mehr so anrüchig. Aber das könnte auf lange Sicht wieder dazu führen, dass die „wütenden jungen Männer“ sich abwenden, weil es wiederum zum Bestandteil des Mainstreams geworden ist, oder?
Die Geschichte des Sambo ist sehr interessant, da sich in ihr die Geschichte der SU spiegelt.
Mit Sambo kenne ich mich nicht so gut aus, ich höre nur immer, dass es sehr hart sei. Von dem Wrestler Rusev wird immer behauptet, er sei früher Sambo-Fighter gewesen (ist vielleicht nur eine Storyline, um seine Härte zu unterstreichen und ihn für Kampfsportfans aufzuwerten?).
Zum Körperkult: Ich denke, dass grundsätzlich Selbstoptimierung, die der Erhöhung der geistigen und körperlichen Durchsetzungsfähigkeit dient, eine wichtige pädagogische Zielvorgabe von Leistungsgesellschaften ist.
Andererseits: Nicht jeder Körper kann im gleichen Maße optimiert werden – zumindest wenn es um Muskelmasse geht. Beim Wrestling ging es jahrezehntelang vor allem darum, groß und muskelbepackt zu sein. Wer zu klein war, hatte einfach Pech. Das bietet für Zuschauer aber wenig Identifikationspotenzial. Zurzeit ist ja Kevin Owens der heimliche Held vieler Wrestlingfans, weil er eher dicklich und wirklich kein Modellathlet, aber ein sehr guter Wrestler ist. So jemand bietet viel Identifikationspotenzial gerade in einer Gesellschaft, die behauptet, man könne alles schaffen, wenn man nur hart genug arbeitet. Steroide zu spritzen, ist ja keine Leistung
Übrigens: Das Silat-Video finde ich sehr interessant – kannte ich auch noch nicht. Schon wieder etwas gelernt
finde ich sehr schön und ausgesprochen ästhetisch: Kampf-Kalligrafie, sozusagen :)