Fühl meinen Schmerz

Gewalt Wrestling ist eine gewaltige und gewaltvolle Soap Opera. Es vollzieht eine Ästhetisierung von Gewalt, die verstörend attraktiv ist

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Ein Mann wird an ein Holzkreuz gebunden. Er trägt einen Kranz aus Stacheldraht um seinen Kopf. Blut quillt aus seiner Stirn hervor, während das Kreuz aufgerichtet wird. Es ist das Jahr 1996, die Kreuzigung des Wrestlers Sandman durch seinen Gegner Raven bildet den Höhepunkt einer langen, blutigen Fehde. Es ist vielleicht die umstrittenste Szene in der Geschichte der ECW (Extreme Championship Wrestling), die auch deshalb unter Wrestlingfans noch lange nach ihrem Verschwinden vom Markt einen legendären Status innehat.

Wrestling is fake!

Der Satz, mit dem Wrestling-Fans am häufigsten konfrontiert werden, lautet: „Weißt du nicht, dass das nicht echt ist?“

Die Frage offenbart ein doppeltes Missverständnis. Denn erstens weiß jeder Fan, dass die Geschichten rund um das Geschehen im Ring erdacht sind. Andererseits – und das ist eine spannende Aporie des Wrestlings – sind die Handlungen im Ring sehr wohl real. Abgesehen von Faustschlägen ins Gesicht und Tritten an den Kopf sind die Aktionen "echt". Ein Sturz aus drei Metern Höhe lässt sich nicht vortäuschen.

"Wrestling is fake!"

"I prefer to think of it as beautifully choreographed fight dancing, but that’s me." (Nathan Birch)

Ein wirklich gutes Match zeichnet sich durch eine Mischung aus Technik und Härte, Choreografie und Spontaneität aus. Dann stellt sich beim Kampf ein Rhythmus ein und die Körper erzählen eine Geschichte, ebenso, wie sie es beim Tango oder Pasodoble tun. Die Gewalt verknüpft sich mit einer Ästhetik, die gleichermaßen fasziniert wie verstört.

Zuzusehen, wie ein Mensch mit Gegenständen geschlagen wird bis er blutet, würde uns normalerweise verstören. Wrestlingfans aber jubeln. Denn der Ring, den die Akteure betreten, legitimiert den Akt der Gewalt. Alles, was hier geschieht, darf geschehen, denn es entspricht seinen Gesetzen.

Blutige Katharsis

Das fließende Blut, durch das Wrestling mit dem „Echtheitsbeweis“ versehen wird, steigert das Kayfabe (die Übereinkunft, die Illusion des Ringgeschehens aufrecht zu erhalten) zur perfekten Show.

Das Blut macht das Match zu einem martialischen Geschehen und hebt es damit in die Liga der großen Gladiatorenkämpfe.

Es ist das komplexe Zusammenspiel von phóbos und éleos, Jammer und Schrecken, das fasziniert. Wrestler durchleben stellvertretend für das Publikum eine Reihe von Affekten - Angst, Wut, Rachlust, Schmerz. Die gezeigten Aktionen erschüttern jeden, der zur Empathie fähig ist.

Auf psychologischer Ebene lässt sich die Faszination, die von Wrestling ausgeht, am besten mit dem Begriff der Angstlust erklären. Jede Aktion – schon ein ungünstiger Aufprall auf den Nacken – könnte lebensgefährliche Verletzungen verursachen. Man fiebert mit, leidet mit, und am Ende ist alles gut – oder eben nicht.

Der Betrachter als Komplize

Ein Youtube-Video zeigt den Moment, in dem Owen Hart (der später selbst im Ring verstarb) den Nacken von Stone Cold Steve Austin bricht. Neugierde und Horror mischen sich bei der Betrachtung. Fast 500,000 Menschen haben allein dieses Video angeschaut.

Ehrlich gesagt beschleicht mich nicht selten ein schlechtes Gewissen, wenn ich Wrestling schaue. Darf man Gewaltszenen betrachten, von denen man weiß, dass sie die Akteure schwer verletzen könnten – auch wenn diese in alle Aktionen einwilligen?

„Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde.“

(Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten)

Vielleicht ist mein Mitleid also nur eine Entschuldigung vor mir selbst?

Gewaltkultur

Weil Wrestling basale menschliche Affekte porträtiert, ist es über Kulturkreise hinweg anschlussfähig. Zugleich greift es immer wieder auf die Gewalt-Ikonografie der abendländischen Kultur zurück. Meist merken es die Fans gar nicht.

Die oben geschilderte Kreuzigungsszene provozierte im Anschluss an den Kampf wütende Reaktionen. Einige ECW-Wrestler hatten den Eindruck, man sei mit der „blasphemischen“ Szene einen entscheidenden Schritt zu weit gegangen. Schließlich taten Raven und Sandman etwas, das Wrestler normalerweise streng vermeiden: Sie brachen ihre Rolle und traten nach dem Match vor die Fans, um sich zu entschuldigen.

Raven alias Scott Levy findet diese Entschuldigung bis heute absurd. Levy rechtfertigte die Kreuzigungsszene als Rückgriff auf christliche Ikonografie – wie könne die Blasphemie sein?

Der eigentliche Witz im Aufruhr um die Kreuzigungsszene besteht darin, dass der Anfang unserer abendländischen Kultur in einem Akt der ästhetisierten Gewalt besteht. Das Bild eines gekreuzigten, leidenden Mannes avancierte buchstäblich zu der Ikone der christlichen Religion. Die Allgegenwart des Bildes erzeugt in uns zugleich eine Gleichgültigkeit im Angesicht des Leids.

Man muss nicht empathielos sein, um angesichts von Gewaltbildern abzustumpfen. Besonders dann, wenn sie im Rahmen eines bestimmten Settings gezeigt werden.

Feel my pain

Payback 2014. Team Evolution tritt im Ring gegen die jungen Stars des Shield an. Im Verlauf des Matches wird ein Shield-Mitglied, Roman Reigns, im Ring isoliert. Team Evolution zerrt ihm die Kleider vom Oberkörper; Reigns wird auf einer herbeigebrachten Ringtreppe fixiert.

Einige harte Schläge mit Kendo-Stöcken sausen auf Reigns nieder, der vor Schmerzen aufschreit und stöhnt. Dann trifft ein weiterer Schlag seinen Körper. Diesmal ist es die harte Plastikspitze des Kendostocks, die (vermutlich versehentlich) mit unfassbarer Wucht auf seine Rippen prallt.

Reigns krümmt sich, seine Augen werden glasig. Er sackt vor der Treppe zusammen, wird mit weiteren Stuhlschlägen auf den Rücken traktiert. Dann zoomt die Kamera auf seine Rippen: Da sind sie, die Male, die die ultimative Echtheit seines Schmerzes bezeugen.

Der Zuschauer ist ganz nah dran und wird durch die Kamera in die Position des ungläubigen Thomas gerückt, der prüfend seinen Finger in die Wunde legen darf. Tatsächlich, die Hämatome sind echt.

Verstörender noch, als das, was im Ring geschieht, sind die Reaktionen der Zuschauer. Viele Fans grinsen genüsslich oder kauen desinteressiert Popcorn. Nur die Kinder (!) im Publikum scheinen einigermaßen geschockt und schließen die Augen.

Weite Teile des Publikums erleben eine Form der kollektiven Dissoziation. Die eigentlich „natürliche“, empathische Reaktion bleibt aus.

Der Wrestler Raven hat sich selbst einmal als "Märtyrer einer dysfunktionalen Gesellschaft" bezeichnet. Ein Mensch, der stellvertretend für andere Leid und Schmerz annimmt ("I feel your pain"). Ganz im Sinne einer Katharsis. Aber was, wenn der Zuschauer nichts mehr fühlt?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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