In your face, Autoritäten!

Roman Shelagh Delaney war nicht nur für Morrissey wichtig. Jetzt kommt sie auf Deutsch
Ausgabe 41/2019
Wäre sie keine Frau, würde man sie längst als literarisches Genie handeln
Wäre sie keine Frau, würde man sie längst als literarisches Genie handeln

Foto: Howell Evans/BIPS/Hulton Archive/Getty Images

Schwer zu sagen, was Jo das Leben schwerer macht: die ungewollte Schwangerschaft, ihre Existenz in einer Bruchbude im Schlachtviertel Salfords, wo es nach blutigen Tierresten stinkt, oder ihre aggressive, pöbelnde Mutter Helen, die immer dann auftaucht, wenn Jos Verhältnisse sich ein wenig ordnen. Ja, Helen ist wohl das Grundproblem: Selbst jung Mutter geworden, klammert sie sich mit einer Mischung aus Abscheu und emotionaler Abhängigkeit an ihre Tochter.

Helen und Jo sind zwei typische Antiheldinnen aus dem literarischen Kosmos Shelagh Delaneys. A Taste of Honey, das Theaterstück, in dem Jo ihrem verhängnisvollen Schicksal nicht entkommen kann, ist Titelgeber für den Band, der Delaneys Erzählungen und Stücke in der deutschen Übersetzung durch Tobias Schwartz nun hoffentlich hierzulande einem größeren Publikum zugänglich macht. Denn Delaney, deren Texte im englischsprachigen Raum gerade auch für Pop-Poeten wie den Mancunian Morrissey enorm einflussreich waren, ist im deutschsprachigen Raum noch immer ein Geheimtipp. Grund genug für Aviva-Verlagschefin Britta Jürgs – eine Schatzgräberin auf dem Feld der unterschätzten, gar vergessenen Autorinnen –, ihr nun einen Band zu widmen.

Wie Jo wird Delaney in Salford, einem Vorort Manchesters, geboren. Wie ihre Heldin gehört sie der englischen Arbeiterklasse an, bricht die Schule jung ab. Delaney beginnt die Arbeit an A Taste of Honey mit gerade einmal 17 Jahren; sie ist 19, als die Uraufführung ihres Stückes stattfindet. Die Kritik ist harsch: Das konfuse Stück sei einer 19-Jährigen vielleicht zu verzeihen – aber warum lasse man Schund wie diesen überhaupt am Theater zu? Delaneys Stück ist unkonventionell, arbeitet es doch nicht nur mit Textmontagen, die sich unter anderem aus (Folk-)Songs speisen – „Black boy, black boy, don’t lie to me / Where did you stay last night?“ Es bricht auch mit Bühnenkonventionen, indem es kurzerhand die vierte Wand durchbricht. Und die Themen! Soziale Kälte, junge Mutterschaft, Rassismus und Homosexuellenfeindlichkeit – bei Delaney kommt alles auf den Tisch, harter Tobak für die englische Mittelschicht der 1950er. Bisschen wie bei Hauptmann oder Ibsen, doch fehlt Delaney der sozialreformerische Impetus. Ihre Heldinnen und Helden streben nicht nach sozialem Aufstieg, das Mitleid der anderen können sie ohnehin nicht gebrauchen. Auch nicht das des Zuschauers, der sich an seinem Mitgefühl für das inszenierte Elend theoretisch delektieren könnte.

Delaneys Charaktere – immer wieder Arbeiterklassemädchen, die in Gesundheits- und Besserungsanstalten nicht etwa zu besseren Bürgerinnen erzogen, sondern durch wechselnde Autoritäten bloßgestellt und erniedrigt werden – verfügen über diese wunderbare, typisch nordenglische Mischung aus „stiff upper lip“ und einer gehörigen Portion trockenem Humor. Sie missachten die Autoritäten, besonders die kirchlichen, nicht wütend, sondern zynisch.

Wäre Delaney ein Mann, so würde sie ganz selbstverständlich den „angry young men“ zugerechnet. Jenen zornigen jungen Männern der Arbeiterklasse, die in den 50er Jahren die Welt der Literatur und Kultur schlagartig umkrempelten, Männern wie Harold Pinter oder Alan Sillitoe also. Sein Vorwort betitelt Übersetzer Tobias Schwartz dann auch nicht unpassend mit „Shakespeares Schwester“. In der feministischen Literatur, bei Virginia Woolf ebenso wie bei Germaine Greer, sind Shakespeares imaginierte Schwester oder Ehefrau Chiffre für den Status des literarischen Genies, der einer Autorin niemals zugestanden würde. Wenn sie denn überhaupt Zeit und Raum findet, an ihren Texten zu arbeiten. Das tat Delaney. Nun muss ihre stilbildende Experimentierfreudigkeit nur noch ihrer Bedeutung entsprechend gewürdigt werden.

Info

A Taste of Honey Shelagh Delaney Tobias Schwartz (Übers.), Aviva 2019, 400 S., 22 €, erhältlich ab 16. Oktober

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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