Materialkunde nach Marx

Philosophie Postmoderne Denker vergaßen ihn, doch der Körper leibt und lebt, weiß Terry Eagleton
Ausgabe 16/2018
So viel körperliche Präsenz hat manche überfordert: Das sechs Meter Bronze-Geschenk aus China
So viel körperliche Präsenz hat manche überfordert: Das sechs Meter Bronze-Geschenk aus China

Foto: Xinhua/Imago

Wir feiern bekanntermaßen ein Marx-Jubiläum. Zum 200. Geburtstag widmen sich reihenweise Sachbücher und Romane dem Marx’schen Denken. Als aber der Großphilosoph und historische Materialist seine Heimatstadt Trier quasileiblich als über sechs Meter hohe Bronzestatue, noch dazu aus chinesischer Produktion, heimsuchte, da wurde es manchem gar mulmig: So viel körperliche Präsenz überfordert. Marx’ Bewusstsein, zwischen Buchdeckel geklemmt, erscheint da leichter verdaulich.

Warum Marx Recht hatte, beschrieb der britische Literaturtheoretiker Terry Eagleton schon 2012 in einem gleichnamigen Buch. Es findet sich heute zwischen den Büchern, die des Philosophen Liebesaffären und die enge Beziehung zu Freund und Gönner Friedrich Engels beleuchten. Nun aber widmet sich Eagleton dem Materialismus selbst. Und zwar nicht allein dem Weltdeutungssystem des historischen Materialismus, dem gemäß es die Verhältnisse der Warenproduktion sind, die die Grundlage jeder Gesellschaftsordnung bilden. Er schreibt ein Buch über den Körper. Nicht jenen Körper, den die Cultural Studies in den letzten zwei Jahrzehnten schreibend postulierten – als wahlweise queeren oder gegenderten oder biopolitischen, kurz: als kulturell produzierten Körper. Eagleton widmet sich handfest dem Körper in seiner kreatürlichen Stofflichkeit. Kein Wunder, dass einer seiner Gewährsmänner auf der philosophischen Reise zur Erkundung der philosophischen Dimension des Leibes Nietzsche ist. Der wandernde, frischluftatmende, gutwetterabhängige, schlecht verdauende Philosoph ist bekanntermaßen ein Körperphilosoph par excellence. Seele, so Nietzsche in Also sprach Zarathustra, sei nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Aber eben kein Etwas, das dem Leibe, gewissermaßen als Kontrollinstanz, oben aufgepfropft ist. Seele, oder nennen wir es etwas moderner das Bewusstsein, ist vielmehr ein Effekt des Körpers. Gleiches gilt für die Sprache, die aus postmoderner Perspektive den Körper erst produziert, womit sie seine materielle Realität unter den Tisch kehrt.

Wir sind uns undurchsichtig

Dass sich Eagleton dem philosophischen Dauerbrenner, dem Leib-Seele-Problem, ausgerechnet jetzt, 2018, widmet, wo der Körper doch förmlich überwunden scheint – denn wird der ewig prothesenproduzierende Leibkörper nicht bald abgelöst werden von virtuellen Avataren, von künstlichen Gebärmuttern und Robotern? –, ist kein Zufall. So wie der postulierte Tod des Autors denselben nicht zum Verschwinden brachte, sondern lebendiger denn je auf dem Tableau der Literatur- und Kulturwissenschaften, der Feuilletons und Literatursofas erscheinen ließ, so ist der von neoliberalen Selbstoptimierungsfantasien gequälte Körper am Ende doch mit Händen greifbare Realität.

„Auf den ersten Blick scheint der Körper die stabilste, offensichtlichste Tatsache des Menschen zu sein, aber in Wirklichkeit ist er ein dunkler Ort, den die Gedanken kaum durchdringen können.“ Und tatsächlich geht es Eagleton genau darum: Das Durchdenken des Körpers führt unmittelbar zu der Frage, wo Bewusstsein, Seele oder Ich, also die eigentlichen Gegenstände von Philosophie und Psychologie, angesiedelt sein mögen. In beiden Disziplinen erscheint der Körper häufig als die äußere Hülle eines abstrakten, denkenden Selbst. Nur: Wie viel Selbstwissen können wir von uns erlangen? Sowohl Ludwig Wittgenstein als auch Sigmund Freud, zwei Weggefährten auf Eagletons Erkundungsreise, weisen die Möglichkeit der Selbsterkenntnis strikt zurück. „Laut Wittgenstein können wir leicht darüber getäuscht werden, was wir fühlen; laut Freud leben wir in einem permanenten Zustand der eigenen Undurchsichtigkeit, den wir das Unbewusste nennen.“ Bewusstsein und Unterbewusstsein hausen aber in dem Ding, das sich Körper nennt, und sind von ihm nicht abzulösen. Sosehr diese Vorstellung die Träume der Kybernetiker und Sci-Fi-Autoren auch befeuern mag. Der Leib, mit all seinen Gebrechen und Unzulänglichkeiten, wird uns auch zukünftig umtreiben.

Info

Materialismus. Die Welt erfassen und verändern Terry Eagleton Stefan Kraft (Übers.), Promedia 2018, 192 S., 17,90 €

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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