Radikal ungerecht

Harvey Weinstein Der Filmmogul wurde zu 23 Jahren Haft verurteilt. Das immense Strafmaß könnte sich für die #MeToo-Bewegung als Pyrrhussieg herausstellen
Die Anwältin Gloria Allred, die mehrere Opfer Harvey Weinsteins im Prozess vertrat, bei einer Pressekonferenz kurz nach dessen Verurteilung
Die Anwältin Gloria Allred, die mehrere Opfer Harvey Weinsteins im Prozess vertrat, bei einer Pressekonferenz kurz nach dessen Verurteilung

Foto: Jeenah Moon/Getty Images

Mehr als 80 Frauen beschuldigten Harvey Weinstein der sexuellen Nötigung beziehungsweise Vergewaltigung, vor Gericht musste er sich wegen zwei Fällen verantworten. Das Urteil dürfte inzwischen bekannt sein: Der Produzent wurde zu 23 Jahren Haft verurteilt. 23 Jahre – das ist knapp an der Grenze zur Höchststrafe. Ist das Urteil zu begrüßen?

Tatsächlich könnte es sich um einen Pyrrhussieg für Metoo-Aktivistinnen handeln, der zukünftig zu weniger Verurteilungen in Vergewaltigungsprozessen führt. Wie das? Wir wissen, dass es in vielen Vergewaltigungsprozessen nicht zu einer Verurteilung kommt. Nicht nur, weil oft Aussage gegen Aussage steht und der Rechtsgrundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ gilt. Die Verurteilung in einem Vergewaltigungsfall zieht massive soziale Ächtung nach sich. Da will man ungern ein Fehlurteil fällen, selbst wenn die Faktenlage recht eindeutig wirkt. So entsteht das Paradox, dass viele Vergewaltiger am Ende nicht bestraft werden, dass jedoch die wenigen, die bestraft werden, moralisch mit Höchststrafen belegt werden. Und jetzt eben auch juristisch.

Das erhöht die Hürden für Jury- und Schöffengerichte, die über Verurteilungen befinden müssen, noch weiter. Vor allem in Fällen, in denen ein anfänglich einvernehmlicher Sexualkontakt in eine Vergewaltigung mündet, also in den grässlichen Grauzonen des Nicht-nein-Sagens, wäre eine Verurteilung wohl ausgeschlossen. Selbst wenn ein Täter eindeutig schuldig ist: Soll er ein Vierteljahrhundert lang ins Gefängnis gehen, weil er jemanden vergewaltigt hat?

Wenn Sie nun sagen, dass solche Überlegungen unmöglich Einfluss auf Be- und Verurteilungen haben, sollten Sie an den Fall von Brock Turner denken: Der Stanford-Student wurde auf frischer Tat ertappt, als er sich an seinem Opfer Chanel Miller verging. Nicht einmal sein Vater bestritt die Tat, fragte aber in einem öffentlichen Brief an den Richter, ob eine zwanzigminütige Handlung („20 minutes of action“) das Leben eines erfolgreichen jungen Mannes ruinieren dürfe. Darf sie das?

Die Feministin Germaine Greer macht in ihrem Buch On Rape („Über Vergewaltigung“) einen interessanten Vorschlag: Man solle Vergewaltigungsdelikte, jedenfalls dann, wenn sie nicht durch brutale Gewaltakte gekennzeichnet sind, milde bestrafen. Dafür aber sollten sie viel konsequenter abgeurteilt werden. So könnte man Wiederholungstäter leichter identifizieren und sie dann auch viel härter bestrafen. Was kontraintuitiv, vielleicht sogar radikal ungerecht klingt, könnte zu einer viel höheren Verurteilungsquote führen. Auch bei netten Jungs von nebenan.

Aber ist Weinstein nicht ein solcher Wiederholungstäter? Nicht, was die tatsächlich angeklagten Taten anbelangt. Über die anderen können wir nur approximativ urteilen. Moralisch, nicht juristisch.

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