Offener Brief @ #allesdichtmachen – Vol.2

#allesdichtmachen Ist das Satire oder kann das weg? Fortsetzung eines offenen Briefes @JanJosefLiefers.

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Ein offener Brief an @JanJosefLiefers vom 24.04.2021

Sehr geehrter Herr Liefers,

mit Ihnen hatte ich mich in der vorigen Woche ja intensiv auseinandergesetzt. Davon werde ich jetzt nichts umfangreich wiederholen. Es ist aber interessant, zu beobachten, dass Sie nach Veröffentlichung der Videos täglich Interviews – teilweise mehrere am Tag - von Ihnen im Fernsehen zu sehen und in Zeitungen und im Netz zu lesen waren. Soviel dazu, dass die eigene Meinung nicht mehr gesagt werden könne.

Eingebetteter Medieninhalt

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In einem Interview – leider finde ich die Stelle nicht mehr – fordern Sie Transparenz zu den Maßnahmen von politischen Entscheidungsträgern*innen und Sie haben recht. Hilfreich wäre es nun, wenn Sie Transparenz zu den Hintergründen der Aktion #Allesdichtmachen liefern. Nach Recherchen von Netzpolitik.org gelten Sie als einer der Hauptverantwortlichen. Geben Sie uns Transparenz und klären Sie auf, ob und vielleicht welche Schauspielkollegen*innen von Ihnen zu #allesdichtmachen überredet wurden. Stammen konkrete Ideen und Texte von Ihnen?
Hätten Sie nicht besser vorab umfangreich über die Hintergründe informieren sollen?

Die Medizinerin und Bloggerin Carola Holzer alias Doc Caro lädt Sie alle zu einer Schicht auf der Intensivstation ein, um mit zu helfen und sich einen Eindruck zu machen, etwas zu lernen und den Horizont zu erweitern.. Und Sie nahmen die Einladung an. Zuerst finde ich die Idee gut. Eine Leserin zwitschert mir auf Twitter:

„Schauspieler*innen wollen einfach auftreten. Wenn sie eine Kamera hingehalten bekommen, machen sie mit. Egal, ob es die Talk-Show, der Gastauftritt in der Comedysendung, eine Game-Show oder so etwas ist. Manche nennen das Sendungsbewusstsein oder auch Eitelkeit. So what."

Ich fürchte, dass sie nicht unrecht hat und dass es ein neues Kapitel Selbstdarstellung geben könnte. Der Chefarzt Professor Jochen Werner möchte das verhindern: „Wer bis heute nicht verstanden hat, was auf den Intensivstationen abgeht, der wird das auch nicht nach einer Schicht tun.“ Eine Art Inszenierung oder „Reality-Show“ wie „der Bergdoktor vom Ruhrgebiet“ werde es dort nicht geben.

Trotz Allem bekamen die Aktivisten*innen von #allesdichtmachen eine Einladung zum Gespräch von Gesundheitsminister Spahn. Davon können Vertreter*innen aus dem Gesundheits- und Pflegesektor nur träumen und das ist ungerecht und schade.

Vielleicht machten auch einige der Beteiligten mit und ließen sich zur Teilnahme überreden, weil Sie als Prominentester bereits zugesagt hatten. Die TATORT-Kommisare Liefers und Tukur und so weiter machen mit – ja, dann wollen wir auch dabei sein. Klären Sie uns auf, Herr Liefers.

Sehr geehrter Herr Brüggemann,

schon zwei Tage nach der Veröffentlichung war zu lesen, dass ein Teil der Videos von Ihnen inszeniert wurde und die Texte teilweise von Ihnen geschrieben wurde.
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Sie bestätigten an mehreren Stellen, dass es so sei, dass aber nicht alle Videos von Ihnen gedreht und nicht alle Texte von Ihnen geschrieben seien. Es fällt beim Betrachten der Videos deutlich auf, dass zahlreiche Videos im gleichen Raum in der gleichen Wohnung – Manche schreiben Loft oder Luxus-Loft – mit der gleichen weißen Ausstattung und der gleichen Holztreppe im Hintergrund gedreht wurden, auch mal mit einem Fahrrad im Hintergrund. Oder waren es die Räume einer Agentur oder eines Fernsehstudios? Hier fällt auf, dass besonders die Aufnahmen in den weißen Räumen sehr gekünstelt wirken und an die einfallslose Optik und Erzählweise deutscher Fernsehspiele und Kinokomödien mit unnatürlichen Dialogen und Schöner-Wohnen-Einrichtung erinnern. Ein Leser meines ersten Leserbrief kommentiert (Auszug):

Wie beschrieben zeichnen sich die 54 Clips durch die Bank aus durch eine überästhetisierte Form – ebenso wie gängige Spielstoffe made in Germany, die typischerweise ebenfalls durch ein Zuviel an Form und ein Zuwenig an substanziellem Inhalt hervorstechen. Ergebnisoffen stelle ich an der Stelle die Frage, wie die Clips rübergekommen wären ohne diese schicksalsschwangere Wagnermusik-Klavieruntermalung oder auch die – wie in Softporno-Weichzeichungsschleier made in Siebziger wirkende Dominanz weißer Töne. Ebenso, wie der Text normal gesprochen gewirkt hätte – anstatt mit diesem theaterschauspielhaften, unrealistischen und durch die Musik zusätzlich ins Pathos gebogene Timbre.

Da stelle ich mir vor, welche emotionale Wucht und welche Energie die Aktion hätte haben können, wenn sie live auf einer Theaterbühne aufgeführt worden wäre. Sie hätten im Rahmen der Hygieneregeln ein sehr begrenztes Publikum live dabei sein lassen und live im Internet übertragen und eine Aufzeichnung ins Internet stellen können. Sie hätten Eintritt einnehmen und Spenden sammeln können, um das Ensemble vor und hinter den Kulissen dieses Theaters zu unterstüten. Die Schicksale von Bühnenangestellte und Ensemblemitgliedern sind nach meinem Einduck in den Videobeiträgen leider etwas unterrepräsentiert. Sie hätten Hintergrundinformationen über die Entstehung der Aktion geben und mit dem Publikum diskutieren können. Sie hätten hier echte Aufklärung betreiben können.

Wie viele Texte und Inszenierungen stammen denn von ihnen und welche? Das fragte ich Sie auch schon auf TWITTER, aber Sie antworten mir nicht. In welchem Zusammenhang Ihre Ausführungen hilfreich sein könne, erkläre ich etwa weiter unten im Text.

Von den ursprünglich 53 Künstler*innen sind jetzt noch 28 Videos online – auf dem offiziellen Videokanal der Aktion. Die Aktion ist innerhalb von knapp zehn Tagen fast halbiert, sie implodiert und sorgt trotzdem noch für Aufsehen.
Sie schreiben an einer Stelle, die Künstler*innen hätten ihre Beiträge zurück gezogen, stünden aber immer noch dahinter – leider finde ich die Stelle nicht mehr. Das kann sein oder auch nicht. Was sollen wir Ihnen glauben. Zogen Ihre (ehemaligen) Mitstreiter*innen ihre Beiträge aus inhaltlichen Gründen zurück, oder wegen persönlicher Anfeindungen oder einfach, weil sie sich Sorgen um ihre Karrieren machen – alle dies Gründe wären verständlich und sie müssen das alle für sich entscheiden. In einem Fall stimmt es sicher nicht. Richy Müller, mit dem Sie einen TATORT drehten, möchte nicht mehr mit der Aktion in Verbindung gebracht werden und lehnt sie auch inhaltlich ab.
Dummerweise leben wir in sehr modernen Zeiten und die Löschung eines Videos reicht nicht mehr. Es gibt Instrumente, um Videos aus dem Internet herunter zu laden, sie neu zu gestalten, zu verändern, vielleicht auch mit verändertem Sinn zu versehen und dann woanders neu hoch zu laden. Jemand nahm sich die Zeit und machte sich die Mühe, alle Videos herunter zu laden und als Zusammenschnitt in einer Datei von knapp 66 Minuten hoch zu laden. Ob es inhaltliche Abweichungen zu den Originalen gibt, mit denen Sie oder die Künstler*innen möglicherweise nicht einverstanden sind, kann ich nicht beurteilen. Das Netz vergisst nichts.
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Sehr geehrter Richy Müller,

wer abwechselnd in zwei Plastiktüten ein- und ausatmet und dabei nicht sofort an ein Beatmungsgerät auf einer Intensivstation denkt, lebt vielleicht in einem Paralleluniversum.
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Immerhin merkten Sie kurz danach, dass es wohl die Blödeste und Zynischste aller Ideen war, die Sie sich als Rolle ausgesucht hatten. Sie erkannten auch, dass der Betreiber der Internetseite allesdichtmachen.de, Bernd K. Wunder Verbindungen zur Querdenker-Szene hat, dass er verantwortungsvolle Menschen als „Maskenknappen“ oder „Coronazis“ tituliert. Dafür möchten Sie sich nicht instrumentalisieren lassen und distanzieren sich auch inhaltlich von der Aktion. Fehler Erkennen und auch noch Zugeben ist eine charakterliche Größe und dafür verdienen Sie Respekt.

Querdenker, Rechte, Nazis & Co.

Nein, von Ihnen ist höchstwahrscheinlich niemand ein*e Reche*r oder Nazi. Allerdings gibt es Verbindungen zur Querdenker-Szene, die mehr sind als zufällige Begegnungen oder unabsichtliche Überschneidungen bei Meinungen und Projekten. Es gibt Verbindungen von Dietrich Brüggemann zum umstrittenen Arzt und Publizisten Paul Brandenburg. Es gibt Verbindungen zu und Aktionen bei Querdenkern von BERLIN-BABYLON-Kommissar Volker Bruch – einem weiteren mutmaßlichem Initiator – und der österreichischen Schauspielerin Nina Proll. Diese müssen aufgeklärt werden.

Welche Rolle spielt Moritz Bleibtreu?

Nach Recherchen des Tagesspiegels stand der Schauspieler im Anfangsstadium mit einigen Akteuren*innen in Verbindung und überredete wohl mindestens sieben Akteure*innen zum Mitmachen. Dort kam es dann nicht gut an, dass Bleibreu ausstieg, bevor es los ging – wohl aus Karrieregründen.

Welche Rolle spielen BILD und andere Springer-Medien?

Ausgerechnet BILD und WELT schreiben in Titelgeschichten positiv über die Aktion.
Schauspielerin Meret Becker bekam Morddrohungen wegen ihres Videos. Das ist indiskutabel. Ihr Bruder Ben Becker regte sich darüber auf und er hat natürlich recht damit. Er regt sich ausgerechnet in einem Video auf BILD-Online auf und sagt dabei einige sehr richtige Punkte.
Ausgerechnet die BILD, der Marktführer bei Meinungsmanipulation, Kampagnenjournalismus, Verleumdung und der medialen Vernichtung von Menschen sorgt sich um die Meinungsfreiheit und die Form der Auseinandersetzung.
Genauso indiskutabel wie Morddrohungen gegen Meret Becker sind natürlich auch Morddrohungen gegen z.B. den Abgeordneten Karl Lauterbach, Lothar Wieler vom Robert-Koch-Institut, Jornalisten*innen oder Buchautoren*innen, die kritisch über das Querdenker-Millieu schreiben.

Gesamteindruck

Einige der Videos fand ich gar nicht mal schlecht. Es sind wohl die, in denen jemand die eigene Meinung sagt und damit zum Nachdenken anregt. Eine Schauspielerin steht vor einem Geschäft, dass zwei Weltkriege überstand, in dem sie Stammkundin war und das jetzt vor der Pandemie kapituliert und schließt. Das war leider eine selten vertretene Meinung innerhalb der Videoaktion.

Natürlich sind auch Forderungen nach Berufsverboten - wie sie sehr schnell von einem Ex-Minister und Rundfunkrat kamen - völlig daneben. Das Publikum entscheidet mit der Fernbedienung, ob es Sie noch sehen möchte oder nicht. Aber Ihnen, Herr Liefers, scheint es ja nicht zu schaden. Sie konnten eben erst Ihren TATORT-Vertrag verlängern und dabei die Gage sogar noch erhöhen. Davor waren es etwa 600.000 im Jahr , war irgendwo zu lesen.

Meinungsfreiheit oder Meinungsmanipulation?

Bestimmt zehn Jahre ist es her, dass eine Agentur gegen Gage Demonstrationsteilnehmer*innen engagierte, die dann für Themen demonstrierten, die von Industrieunternehmen und Lobbyverbänden in Auftrag gegeben wurden – mit inszenierten Parolen und individuell gezeichneten Schrifttafeln. Das war vorübergehend ein gutes Geschäftsmodell und eine interessante Einnahmequelle für studentische Aushilfen und andere Demonstrationsdarsteller*innen. Und es war eine Gefahr für das Demonstrationsrecht.
Heute kann so etwas unauffälliger und auch eleganter gehen und im Internet geplant und durchgeführt werden.
Wir wissen nicht oder nur sehr begrenzt, welche Ihrer Videos die freie Meinungsäußerung der Künstler*innen wiedergeben und wir wissen nicht, wer ein fremdes Drehbuch vorliest. Wir können nur vermuten. Die Grenzen zwischen freier Meinungsäußerung, Meinungsmanipulation und Kampagne sind nicht mehr feststellbar. Sie informieren nicht und regen nur in zu geringem Umfang zum Nachdenken an. Sie desinfomieren auch. Sie desorientieren. Sie fügen der Meinungsfreiheit, die Sie zu verteidigen vorgeben, einen Schaden zu.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Betzwieser

Personifizierter Ärger über Meinungsmanipulation, Kino- und Kabarattliebhaber

Martin Betzwieser

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