Georgien will ein Land mit prowestlicher Staatsdoktrin sein, das 2008 einen Krieg gegen Russland verloren hat. Auf etwa 20 Prozent seines Territoriums in den abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien stehen teilweise russische Friedenstruppen. Es überrascht daher, dass sich die Regierung der Oligarchenpartei „Georgischer Traum“ ausgerechnet jetzt um eine Annäherung an Russland bemüht. Am 19. Mai wurden die Direktflüge zwischen Moskau und Tiflis wieder aufgenommen.
Als sich dann jüngst das Gerücht verdichtete, eine Moskauer VIP-Gesellschaft unter Einschluss von Ekaterina Winokurowa, der Tochter von Außenmister Sergej Lawrow, feiere Hochzeit im exklusiven kachetischen See-Hotel „Kvareli Lake“, eilten Bewohner der Gegend
der Gegend zu wütenden Protesten herbei. Der Vorsitzende von „Georgischer Traum“, Irakli Kobachidse, sah in den Protesten eine „liberal-faschistische Agitation“ der nationalistischen Opposition, um Georgien in den Ukraine-Krieg hineinzuziehen. Präsidentin Salome Surabischwili, eine Gegnerin der Annäherung an Russland, schrieb sich zugute, dass immerhin die „zweite Hälfte der Hochzeit nicht stattgefunden“ habe. Die ungeliebten Gäste seien „weggefahren“.Eingeschlafen im ersten Minibus des Tages, der aus Tiflis abfuhr, stand ich plötzlich am zentralen Busstopp der Kleinstadt Kvareli. Eine Baracke, ein Container mit Friseur drin und draußen an einem Tischchen aus hundertmal abgenagtem Pressspan ein 68-jähriger „Administrator“ (wovon auch immer). Er kannte „mindestens fünf Leute, die protestiert und auch Lawrows Tochter gesehen haben“. „Wenn die Russen Freunde sein wollen, sollen sie ihre Truppen aus Südossetien abziehen, dann können wir Freunde sein.“ Ich erfahre, dass der „44 Hektar große Natursee“, mit dem das Hotel „Kvareli Lake“ auf seiner Website prahlt, in Wahrheit ein sowjetischer Stausee ist, der erst in der Kindheit des „Administrators“ angelegt wurde. Früher hätten sie am See gebadet und gegessen, erzählt er. „Jetzt kommen wir nicht mehr ran“, das Hotel habe den See komplett eingezäunt.Kvareli wirkt ärmlich, Kurstadtflair verbreiten allein ein paar ältere Damen, die allein oder zu zweit unter Zwei-Personen-Sonnenschirmen umherstaksen. Ich sitze lange in einer der neuen Familienpensionen, die „central“ oder „in the middle of“ im Namen tragen. Dort bekommt man keinen Expresso, doch wird dem georgischen Nationalgericht gehuldigt, den saftigen und würzigen Teigtaschen „Chinkali“. Auf großen Blechen werden die dampfenden Chinkali zu den Tischen und auf die Straße getragen. Ich bin im tiefen Georgien. Georgien ist multiethnisch, Kvareli nicht sehr, viele hier sprechen nichts als Georgisch. Als hätte sie mitgemacht, was sie nicht hat, sagt die junge Kellnerin in gebrochenem Englisch: „Wir haben gegen die Hochzeit protestiert! Russia? Enemy!“Daraufhin führe ich auf dem Platz vor dem Lokal meine Umfrage durch. Ich kaufe zunächst Aprikosen. Der alte Aprikosenbauer würde sie nach Russland liefern wollen, „das wären nur 250 Kilometer“ und würde mehr einbringen als die umgerechnet 17 Eurocent, „für die unsere unglaubwürdige Präsidentin versprochen hat, dass wir hier angeblich Aprikosen verkaufen“. Als Nächstes will ich Kirschen kaufen, wieder auf Russisch, die Kirschbäuerin in ihrem grauen Witwenkleid schweigt mich aber eisig an. Erst als ihr versichert wird, dass ich kein Russe bin, lächelt sie. Eine der Mütter am Kinderspielplatz hat „hier nirgendwo eine Hochzeit gesehen“, und selbst wenn: „Ist mir alles egal.“ Eine junge Wachtturm-Missionarin, Tochter einer aus dem abtrünnigen Abchasien geflohenen Russin, antwortet mir per Smartphone-Übersetzung: „Ich kann mich nicht dazu äußern. Ich bin georgisch, russisch und jüdisch und achte alle Nationalitäten.“ Ein mit abmontiertem Taxischild im Wagen sitzender Senior, der 48 Jahre in Kasachstan gelebt hat, trägt ausgewogene zeitgeschichtliche Analysen vor. Zum Thema meint er: „Russen sollten mal lieber in Russland heiraten.“Bei aller Vielfalt der Meinungen scheint sich Kvareli in zwei Punkten einig zu sein: Dass sich der Bräutigam, der „Vintage-Musiker“ Mika Winokurow, am Cover seines Facebook-Profils mal mit einem „Nein zum Krieg in der Ukraine“ exponiert haben soll – aber das macht für niemand einen großen Unterschied. Und dass die georgische Armee der Ukraine beispringen könnte, indem sie mit Angriffen auf die abtrünnigen georgischen Regionen russische Truppen bindet – das hält hier, weil es Krieg hieße, niemand für eine gute Idee.Erst als ich mit dem letzten Minibus nach Tiflis zurückfahre, sehe ich die kachetische Landschaft. Kvareli liegt tief in einer weiten Ebene aus Obst- und Weinplantagen, aus der nach wenigen Kilometern jäh der Große Kaukasus aufragt. Dort oben – so hoch oben und so nah! – beginnt schon Russland.